Joseph Zoderer - Der Schmerz der Gewöhnung

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EIN FAMILIENSCHICKSAL VOR DEM HINTERGRUND DER BEWEGTEN GESCHICHTE SÜDTIROLS UND ITALIENS.
Alte Wunden: in einem Land zwischen Option, Faschismus und Versöhnung
Zwei Kulturen, zwei Sprachen und eine gemeinsame gewaltvolle Geschichte prägen das Land, in dem der Bozner Redakteur Jul lebt. Als seine kleine Tochter bei einem Unfall stirbt, gerät sein Leben aus den Fugen. Noch nach Jahren quält ihn die Frage nach Schuld und Verantwortung. Endlosschleifen der immer selben Gedanken rauben Jul den Schlaf. Das Haus im Grünen, das er für seine Familie als Rückzugsort renoviert und gestaltet hat, wird ihm zur Last, die Ehe zu seiner italienischen Frau Mara scheint unwiederbringlich zerrüttet. Entfremdet von sich selbst, fasst Jul einen Entschluss.
Von Südtirol nach Sizilien: aus dem äußersten Norden in den tiefen Süden
Jul reist ins sizilianische Agrigento, in die alte Heimat seines Schwiegervaters, eines ehemaligen faschistischen Funktionärs. Der glühende Verehrer des «Duce» Benito Mussolini wurde vor vielen Jahrzehnten nach Bozen versetzt, um die Italienisierung der Südtiroler voranzutreiben. Seine Frau – Maras Mutter, eine «Deutsche» – gab ihre Sprache für ihren Ehemann auf. Juls Familie hingegen optierte für das nationalsozialistische Hitlerdeutschland und ging nach Graz. Jul, der Südtiroler, spürt nun am anderen Ende Italiens den Wunden und Grenzen nach, die sein Leben, seine erschütterte Ehe mit Mara und sein Land überziehen. Wie lassen sich diese Grenzen einreißen?
Eine bewegende Geschichte von Verlust und Versöhnung von Joseph Zoderer
Eindringlich erzählt Joseph Zoderer von der Tragödie eines Mannes, dessen Leben bestimmt wird von der Geschichte des Landes, in dem er lebt. Und so ersteht auch die gewaltsame Geschichte Südtirols und Italiens auf, die zur Mitte des 20. Jahrhunderts über das Leben der Bewohner hinwegfegte und dessen Spuren noch heute sichtbar sind. Der fünfte Band der Werkausgabe erscheint mit einem Nachwort von Peter Hamm sowie einem Beitrag zur Textgenese.
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Bisher in der Werkausgabe erschienen:
Dauerhaftes Morgenrot
Das Schildkrötenfest
Die Walsche
Lontano
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Er hatte in einem Schreibwarengeschäft, das eigentlich ein Souvenirladen war (mit den girgentischen Tempelruinen in Gips oder Kork), ein paar blaue Schulhefte gekauft und wollte darin – wann und solange er konnte oder mochte – einiges notieren, was sein Leben ausgemacht hatte, was immer ihm einfiel, auch das scheinbar Unwichtige.

In der Nacht wachte er regelmäßig nach zwei, drei Stunden Schlaf auf und später mindestens noch zweimal, und jedes Mal schien ihm, nun müsse er bis zum Morgen wach bleiben. Manchmal setzte er sich dann an das Tischchen, im Mauerwinkel zwischen Fenster und Badetür, und schrieb ein paar Zeilen, meistens war er zu mehr nicht imstande – doch es kam auch vor, dass er kaum aufhören wollte. Einerseits, weil er den Schmerz nicht ertrug, wenn das Erinnern … aber anderseits lebte er auf, lebte noch einmal ein Stück Zeit. Und manchmal legte er gerade deshalb den Kugelschreiber weg und schluckte Tabletten. Um zu vergessen, um zu verdrängen, versuchte er an alles Mögliche zu denken, an Fußball, ja sogar an die nächsten Parlamentswahlen in Schweden. Nur um wegzudenken von Mara und Natalie. Und auch, warum er zu keinem Facharzt gegangen war. Tatsächlich schlief er irgendwann wieder ein, bis um sechs oder halb sechs, dann schaffte er es nicht mehr. Der Druck in seinem Kopf. Als ob sich in seinem Schädel etwas verknäuelte (ein Reptil). Er sprang aus dem Bett, schob einen Fensterladen auf, stellte sich unter die Dusche.

Am Sonntagmorgen um halb sieben ging er durch eine tote Stadt; die Sonne schien schon auf die Hausdächer der Hauptstraße (die gerade breit genug war für die Durchfahrt der kleinen städtischen Busse), niemand überholte ihn, niemand kam ihm entgegen, kein Tabakladen, kein Zeitungskiosk, keine Bar oder Pasticceria geöffnet. Ja, drei Arbeiter räumten eine Wohnung im ersten Stock über einem Laden aus, einer warf das Zeug in großen Pappkartons herunter, einer seiner zwei Kollegen fing die Schachteln jeweils auf. Kurz bevor Jul auf den Platz gelangt mit dem Magnolienbaum, den Stechpalmen und Kakteen und all den anderen mediterranen dunkelgrünen Blätterbäumen, aus denen die Spatzenscharen schon längst zu diesem Tag ausgeschwärmt sind, vertreten ihm plötzlich zwei Männer den Weg und fragen ihn, ob er schon einmal von „Geova“ gehört habe, und bevor er im Weitergehen weiß, was sie meinen, haben sie ihm ein Faltblatt zugesteckt, auf dem er lesen kann: dass Jehova das verlorene Paradies wiederherstellen werde auf Erden für alle jene, die bereit sind, ihm zu gehorchen wie Kinder („Er wird jede Träne in ihren Augen trocknen und es wird den Tod nicht mehr geben“). Im Park hat ein Zeitungskiosk geöffnet und ebenso das Pavilloncafé „Milano“. Er setzt sich unter einen Spatzenbaum, lässt sich einen Cappuccino mit Cornetto bringen und liest, dass der Brasilianer Ronaldo endlich wieder ein Tor geschossen hat für Inter Mailand und: „Hunderttausende betroffen von Reaktorunfall in Tokaimura“. Am Nachbartisch sitzen zwei ältere Männer – einer mit Spazierstock scheint gehbehindert, jedenfalls gebrechlich – und ein etwas jüngerer mit dichtem schwarzen Haargewuschel und Sonnenbrille; die Sonnenbrille ist immer wieder auf Jul gerichtet. Doch jetzt will er nicht mehr den Platz wechseln, will in Ruhe sein Cornetto kauen und lesen. Das litaneienhafte, mundartliche Reden am Nebentisch kann er so und so nicht verstehen, aber er sieht, wie zu dem Gebrechlichen von Zeit zu Zeit ältere Herren hinzutreten, auch junge Burschen, und ihn respektvoll begrüßen, manche küssen sogar seine Hand. Ein beliebter alter Mann (oder ein Boss?) in unansehnlicher Kleidung, cremig helles, kurzärmeliges Hemd und kaffeebraune Hose.

Die Stadt ist eine Kasbah, ein labyrinthisches Winkelwerk, mit Gässchen, die sich ständig verzweigen, man kommt, wenn man sich nicht auskennt, nie dorthin, wo man will, doch immer wieder tut sich unerwartet eine Verbreiterung auf, ein abgeschiedenes Plätzchen (cortile) mit dem Duft nach frischgebackenem Brot und neben dem Panificio ein Gemüseladen und manchmal auch die Officina eines Handwerkers. Die meisten Häuser sind mit diesen ockergelb bräunlichen Quadern aus Tuffstein gebaut (an einem sah er die noch grünen Blätter wilder Weinreben bis zu den Fenstern des vierten Stockes hinaufranken), darunter Palazzi aus der Renaissance und aus dem Barock mit monumentalen, von Wind und Salzluft zerfressenen Portalen (und in den Stockwerken darüber nicht selten diese Romeo-und-Julia-Balkönchen mit Eisengeländer). Über dem Schild eines Dentisten (Franco Siracusa) las er auf einem zweiten Schild: „Qui riceve la maga di Caldea“ (Hier empfängt die Magierin von C.). Wenn er jetzt zu Natalie hätte sagen können: Ich weiß, wo die Zauberin von Caldea wohnt. Er konnte von einer Terrasse des Aldo-Moro-Platzes auf den Bahnhof, auf das Dach der Bahnhofshalle und auf die Geleise schauen. Aber er stieg nicht hinunter.

8

Es war ja alles schon längst vergangen. So viele Jahre und doch wie gestern, dass er Natalie die moosige Lichtung im Wald gezeigt hatte an einem Märztag, dieses Wasserloch mit den Gelbbauchunken, nicht weit von ihrem Berghaus entfernt. Jetzt hörte Jul sich jeden Abend das Konzert der zeternden Spatzen in den Bäumen am Moro-Platz an. Unter der größten Magnolie hockte er in einem dunkelgrünen Plastiksessel und hörte den Spatzen zu. Wenn der letzte Sonnenstrahl am letzten Zweig verlöschte, verstummten sie jäh. Dann war wieder vereinzeltes Autohupen zu hören, der Motorenlärm von der Piazza Vittorio Emanuele und natürlich das Debattieren der Männer an den Bar-Tischchen und auf den Bänken des Parks. Durch das lockere Geflecht eines weißblühenden Zierstrauchs sah er ein etwa zwanzigjähriges Mädchen, das vorbeispazierenden Männern Aschenbecher aus glänzendem Metall um tausend Lire zum Kauf anbot. Mit überkreuzten Beinen saß diese Schwarzhaarige auf einer Bank und kreischte jeden Vorbeigehenden an, dabei lachte sie so seltsam über das ganze Gesicht, griff sich mit der freien Hand immer wieder ins dunkle, über die Schulter fallende Haar. Jul blickte auf ihre dicksohligen geschnürten Schuhe, sie schien ausgerüstet für kühlere Nächte im Freien, mit einer lackschwarzen Lederjacke und schwarz-weiß gestreiften Mephistohosen. Die Männer in seiner Nähe waren auch auf sie aufmerksam geworden, mehrmals hörte er den einen und anderen sagen: Una bella ragazza. Und ein schönes Mädchen war sie, solange sie nicht ihren Mund verzerrte, was sie von Zeit zu Zeit aber tat, indem sie die Lippen jäh nach oben oder in die Breite verzog.

Es war Nachmittag gewesen – ein wolkengrauer Nachmittag, sagten sie später im Dorf. Und Mara hatte Natalie zu deren Freundin Manuela gebracht, in dieses kleine Hotel an der Straße (mit Restaurant und Hallenbad). Während er, Jul, unterwegs war in Passau für eine Radio-Reportage (Suizid unter Jugendlichen). Tags darauf wusste er, dass Mara nicht allein mit Natalie zu dem Hotel gefahren war, sondern in Begleitung eines ortsfremden Italieners.

Die Kacheln im Schwimmbecken waren blau, blaues Wasser bis zu den Knien beim Einstieg, doch der Beckengrund neigte sich bis zu zwei Meter Tiefe am Beckenende. Und dort gab es eine kleine Leiter zum Ausstieg mit weißen Sprossen, die Natalie nicht mehr erreichte.

Ihm fehlt Maras Schweigen. Als ob er ohne eine Haut aus Wald und Gras und ohne Schnee und Regen und das Feuer in seinem Ofen nicht leben könnte. Es würgt ihn, die untergehende Sonne erwürgt ihn, es interessiert ihn nicht, dass Maras Vater irgendwann einmal an diesen Magnolienbäumen hier als Kind vorbeigelaufen oder als junger aufstrebender Mussolini-Faschist in der schwarzen Uniform eines Federale mit wadenengen Lackstiefeln die Via Atenea herunterparadiert ist. Er will nicht daran denken, will von dieser dröhnenden, muffigen Vergangenheit nichts wissen. Er möchte –, ja, was möchte er?

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