Der Geheimagent
Joseph Conrad
Der Geheimagent
© 1907 by Joseph Conrad
Aus dem Englischen von Ernst Wolfgang Freissler 1926
© Lunata Berlin 2019
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Über den Autor
Wenn Herr Verloc morgens ausging, so ließ er sein Geschäft angeblich in der Hut seines Schwagers. Das konnte er tun, weil im allgemeinen wenig Kunden kamen und vor den Abendstunden überhaupt keine. Herr Verloc kümmerte sich wenig um seinen angeblichen Laden, und überdies wurde sein Schwager von Frau Verloc beaufsichtigt.
Der Laden war klein, ebenso wie das ganze Haus. Es war eines der rußigen Backsteinhäuser, wie es sie in großen Mengen gab, bevor in ganz London mit Neubauten begonnen wurde. Der Laden glich einer viereckigen Schachtel, deren Stirnseite mit kleinen Scheiben verglast war. Unter Tags blieb die Tür geschlossen, abends aber stand sie unauffällig, doch verdächtig offen.
Das Auslagefenster enthielt Lichtbilder von mehr oder weniger unbekleideten Tänzerinnen; unterschiedliche Dinge in Packungen, die an Heilmittel gemahnten; geschlossene gelbe Briefumschläge, recht dünn, und in dicker, schwarzer Schrift ausgezeichnet mit 2/6. Einige Nummern alter französischer Witzblätter hingen an einem Bindfaden, wie zum Trocknen. Ein schmutziger Napf aus blauem Porzellan, ein Kästchen aus schwarzem Holz, einige Flaschen Merktinte, Stempelkissen; einige wenige Bücher, deren Titel auf unsauberen Inhalt deuteten; einige augenscheinlich alte Nummern dunkler Tagesblätter, schlecht gedruckt, mit Titeln wie: »Die Fackel«, »Der Gong« – Skandalblättchen. Die beiden Gasflammen im Laden waren immer klein gestellt, sei es nun aus Sparsamkeit oder aus Rücksicht auf die Kunden.
Diese Kunden waren entweder ganz junge Leute, die sich eine Zeitlang vor dem Auslagefenster herumdrückten, bevor sie hastig hineinschlüpften, oder Männer gesetzten Alters, die aber gemeinhin aussahen, als wären sie schlecht bei Kasse. Einige dieser letzten Art trugen die Kragen ihrer Überzieher bis zur Schnurrbartspitze aufgeschlagen; die Säume ihrer Beinkleider wiesen Schmutzspuren auf und schienen abgetragen zu sein und nicht eben kostbar. Die Beine, die darin staken, sahen in der Regel auch nicht nach viel aus. Die Hände tief in den Seitentaschen ihrer Röcke vergraben, schoben sich diese Leute, mit einer Schulter voran, seitlich durch die Türe, als fürchteten sie, die Glocke zum Tönen zu bringen.
Diese Glocke, an einem gebogenen Stahlband an der Türe befestigt, war schwer zu vermeiden; sie war hoffnungslos heiser; abends aber schnatterte sie beim leisesten Anreiz mit unverschämter Hartnäckigkeit hinter jedem Besucher her.
Sie schnatterte; und auf dieses Zeichen pflegte Herr Verloc hastig durch die staubige Glastüre hinter dem Ladentische aus dem rückwärts gelegenen Wohnzimmer einzutreten. Seine Augen waren von Natur schwer; er sah immer aus, als hätte er sich ganz angezogen einen vollen Tag auf einem ungemachten Bett gewälzt. Ein anderer Mann hätte ein solches Aussehen wohl als ausgesprochen nachteilig empfunden, denn im Kleinhandel hängt ja so viel von der freundlichen und einladenden Erscheinung des Verkäufers ab. Herr Verloc aber kannte sein Geschäft und ließ sich von ästhetischen Zweifeln über sein Äußeres nicht anfechten. Mit einer kalten, starr blickenden Unverschämtheit, die das Lautwerden irgend einer scheußlichen Drohung hemmen zu wollen schien, pflegte er über den Ladentisch weg irgendwelche Dinge zu verkaufen, deren Wert sich ganz offenbar lächerlich unter dem Preise bewegte, der dafür verlangt wurde: eine kleine, augenscheinlich leere Pappendeckelschachtel zum Beispiel, oder einen jener gut verschlossenen gelben Briefumschläge, oder einen schmutzigen Pappband mit verlockendem Titel. Dann und wann kam es vor, daß eine der ausgebleichten gelben Tänzerinnen an einen Liebhaber verkauft wurde, als wäre sie jung und lebendig.
Manchmal war es Frau Verloc, die auf den Ruf der heiseren Glocke hin erschien. Winnie Verloc war eine junge Frau mit voller Büste in engem Mieder und mit breiten Hüften. Ihr Haar war sauber geordnet; kühl blickend wie ihr Gemahl, bewahrte sie hinter der Brustwehr des Ladentisches eine anscheinend unergründliche Gleichgültigkeit. Dann pflegte wohl ein Kunde zarteren Alters in jähe Verwirrung zu geraten, weil er es mit einer Frau zu tun hatte, und, Wut im Herzen, den Wunsch nach einer Flasche Tinte hervorzustammeln, im Werte von sechs Pence (Preis in Verlocs Laden ein Schilling sechs Pence), die er, draußen angelangt, heimlich in die Gosse fallen ließ.
Die abendlichen Besucher – die Männer mit aufgeschlagenen Kragen und tief sitzenden weichen Hüten – nickten Frau Verloc vertraulich zu und schoben sich mit einem gemurmelten Gruße durch die Klappe am Ende des Ladentisches, die den Durchgang zu dem rückwärtigen Wohnraum und dem anschließenden Gang mit der steilen Stiege bildete. Die Ladentür bot den einzigen Eingang zu dem Hause, in dem Herr Verloc sein Geschäft als Verkäufer minderer Waren betrieb, seinen Beruf als Beschützer der Gesellschaft ausübte und seine häuslichen Tugenden zur Geltung brachte. Diese letzteren waren ganz ausgesprochen, er war überaus häuslich; weder seine seelischen, noch seine geistigen, noch seine körperlichen Bedürfnisse waren danach angetan, ihn viel außer Haus zu führen. Er fand innerhalb seiner vier Wände Ruhe für seinen Leib, Frieden für sein Gewissen, zugleich mit Frau Verlocs weiblichen Aufmerksamkeiten und der ehrerbietigen Wertschätzung von Frau Verlocs Mutter.
Winnies Mutter war eine stämmige, kurzatmige Frau mit großem braunen Gesicht; sie trug eine schwarze Perücke unter einer weißen Haube; ihre geschwollenen Beine zwangen sie zur Untätigkeit. Sie glaubte an ihre französische Abstammung, vielleicht mit Recht; und nach langjähriger Ehe mit einem konzessionierten Gastwirt mehr alltäglicher Klasse brachte sie sich durch die Zeit ihrer Witwenschaft mit dem Vermieten möblierter Zimmer an Herren, nächst Vauxhall Bridge Road, an einem Platz, der einstmals zu den besseren gehörte, gerade noch an der Grenze des Stadtbezirkes Belgravia; diese Ortsbezeichnung bot ihr bei Ankündigung ihrer Zimmer einigen Vorteil; die Mieter der würdigen Witwe aber gehörten nicht unbedingt zu den besseren Leuten. Ihre Bedienung besorgte die Tochter Winnie, die gleichfalls Spuren der französischen Abstammung aufwies, deren sich die Mutter rühmte, vor allem in der überaus sorgfältigen und künstlichen Anordnung ihres üppigen dunklen Haares. Winnie hatte noch andere Reize: ihre Jugend, ihre vollen, rundlichen Formen, ihre reine Haut, endlich ihre unergründliche Zurückhaltung, die aber nicht so weit ging, jegliche Unterhaltung unmöglich zu machen; diese wurde dann von des Mieters Seite angeregt und von ihr selbst mit gleichbleibender Liebenswürdigkeit fortgeführt. Herr Verloc mußte wohl für diese Reize empfänglich gewesen sein; Herr Verloc war kein Dauermieter; er kam und ging, ohne irgendwelchen ersichtlichen Grund. Gewöhnlich tauchte er in London (wie die Influenza) vom Festland her auf, nur wurde sein Kommen nicht von der Presse angekündigt, und seine Besuche setzten mit vollem Ernste ein. Er frühstückte im Bett und blieb schwelgerisch, mit dem Ausdruck stillen Vergnügens, jeden Tag bis Mittag liegen – manchmal sogar noch länger. Ging er aber einmal aus, dann schien er nur mit größter Mühe den Rückweg zu seinem zeitweiligen Heim am Belgravia-Platz zu finden. Er verließ es spät und kam früh zurück – um drei oder vier Uhr früh; beim Erwachen um zehn Uhr morgens sprach er Winnie, die ihm das Frühstücksbrett brachte, mit spaßhafter, müder Höflichkeit an, in dem heiseren, lispelnden Tonfall eines Menschen, der anhaltend mehrere Stunden hindurch geredet hat. Seine hervorstehenden Augen mit den schweren Lidern sandten verliebte und schmachtende Seitenblicke. Die Bettdecke hatte er bis zum Kinn heraufgezogen, und sein weicher schwarzer Schnurrbart bedeckte die dicken Lippen, von denen so viel Honig träufeln konnte.
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