Der Mann mit dem faltigen Gesicht und der großen, dicken Brille richtete sich zur vollen Größe auf. Sehr viel war das nicht. »Er kommt langsam zu sich«, sagte er mit einer geisterhaft hauchenden Stimme, »Unkraut vergeht nicht.« Hatte Paul Hinderks zum neuen Körper auch neue Stimmbänder bekommen?
Der weiß Gekleidete trat beiseite. Oberkommissar Kramer nahm seinen Platz ein. »Moin, Chef«, sagte der hagere Mann. »Das ging gerade noch mal gut gestern. Ich bin echt froh, dass du nicht einen Schritt schneller gewesen bist.«
Moin, das sagte der Ostfriese zu jeder Tages- und Nachtzeit. Weil es ja auch nicht etwa »Morgen« hieß, sondern »schön«. Auf Plattdeutsch »moj«. Moin war die Kurzform von »Mojen Dag« und passte immer. Aber »gestern«?
»Wie lange?«, krächzte Stahnke. Die Worte schmerzten in seinem ausgedörrten Hals. Und in seiner Brust.
»20 Stunden ungefähr«, erwiderte Kramer. »Die haben dich ganz schön unter Drogen gesetzt. Der Explosionsdruck hatte dich umgeworfen, und du bist rückwärts auf den alten Drehstuhl von Hinderks gefallen. Hast dem Ding damit den Rest gegeben. Der Notarzt befürchtete, du könntest dir dabei die Wirbelsäule verletzt haben, und hat alle möglichen Untersuchungen angeordnet, MRT und so weiter. Dazu mussten sie dich erst einmal ruhigstellen.«
Stahnke holte Atem und spürte wieder den stechenden Schmerz. »Und?«, stöhnte er.
»Wirbelsäule in Ordnung«, berichtete Kramer. »Nur eine Rippe ist angeknackst.«
Nur eine Rippe? Nur angeknackst? Dafür tat sein Brustkorb aber ganz schön weh, dachte Stahnke. War die Rippe vielleicht doch durchgebrochen und steckte in seiner Lunge?
Der Arzt erschien wieder in seinem Blickfeld. Jetzt, da Stahnke zunehmend klarer sah, erschien ihm die Ähnlichkeit mit Paul Hinderks nicht mehr ganz so groß. Und der Mediziner selbst nicht mehr so unbekannt. »Doktor Mergner!«, stieß er hervor. »Seit wann kümmern Sie sich um die Lebenden?«
»Nun ja, auch meine Kunden haben alle irgendwann mal gelebt«, hauchte der Pathologe mit seiner Geisterstimme. Sein Kittel umbauschte seinen grätenhaften Körper wie morgendlicher Seenebel. »Ich muss gestehen, dass ich für einen Moment mit dem Gedanken geliebäugelt habe, auch Ihre opulenten Überreste auf meinen Tisch zu bekommen. Aber so weit ist es noch nicht. Tatsächlich bin ich wegen des eigentlichen Opfers besagter Explosion hier im Haus.«
Wieder schob sich das Gesicht von Paul Hinderks vor das von Doktor Mergner. Stahnke blinzelte; anscheinend zirkulierte noch allerhand Chemisches durch seine Adern. Kramer gab seinem Vorgesetzten einen Schluck zu trinken, was dieser dankbar annahm. Sogar aus einem Schnabelbecher.
»Was ist mit Hinderks?«, fragte Stahnke. Selbst das lautere Sprechen bereitete ihm Schmerzen in der Brust.
»Falsche Zeit, falscher Ort«, hauchte Doktor Mergner. »Es hat ihn buchstäblich zerrissen. Als Organspender kommt er definitiv nicht mehr infrage. Schade eigentlich, er besaß einen Spenderausweis.«
Stahnke schloss die Augen. So aber sah er Hinderks’ Kopf erst recht vorbeifliegen. Schnell öffnete er sie wieder.
»Die Bombe war in einem Heizlüfter versteckt«, berichtete Kramer; Stahnke war dankbar für dessen unpersönlichen Tonfall. »Größeres Modell, sorgfältig entkernt. Hinderks hat gemerkt, dass das Gerät dort nicht hingehörte, wo es stand. Die Explosion muss erfolgt sein, als er sich gerade darüber beugte.«
Im Hintergrund warf Doktor Mergner lautlos beide Arme hoch und zur Seite, eine Detonation andeutend. Gegen seinen Willen musste Stahnke lachen; der Schmerz in seinem Brustkorb verstärkte sich um ein Vielfaches.
»Eine Falle«, stieß der Hauptkommissar mühsam hervor.
»Möglicherweise«, erwiderte Kramer. »Die Experten vom LKA haben Reste eines Säurezünders entdeckt. Der Zeitpunkt der Explosion war also vorherberechnet. Allerdings konnten der oder die Täter nicht genau wissen, dass ausgerechnet der Gewerkschaftsbevollmächtigte Paul Hinderks zu dem Zeitpunkt dort stehen würde.«
»Wer sonst?«, fragte Stahnke. »Wer sonst hätte in dem Moment genau dort stehen sollen?«
»Wir«, antwortete Kramer.
Stahnke schnappte nach Luft, unterdrückte einen Schmerzensschrei, versuchte, Kramers Gedanken zu folgen. Sie? Kramer, Ekinci, Stahnke selbst, die Spurensicherung, kurz: die Polizei? War dies ein Anschlag auf die Polizei gewesen?
Dann hätte es sich bei dem Molli um einen Köder gehandelt. Den Wurm am Haken. Jemand meldet den Brand, Feuerwehr und Polizei rücken an, normales Procedere. Innerhalb von ein bis anderthalb Stunden ist der erste Zugriff abgeschlossen, Feuerwehr und Spurensicherung haben ihren Job gemacht, die Kripo rückt an und beginnt zu ermitteln. Darunter der eigens aus Aurich herbeigerufene Hauptkommissar Stahnke, Leiter des Fachkommissariats römisch eins. Und dann: Bäng.
»Wer hat den Brand gemeldet?«, fragte er.
»Anonymer Anrufer«, sagte Kramer.
Die beiden Ermittler schauten einander an. Sie arbeiteten seit vielen Jahren zusammen, mussten nicht mehr viele Worte machen. Was Kramer da angedeutet und Stahnke sich ausgemalt hatte, konnte so gewesen sein, musste es aber nicht. Absolut nicht. Nicht ohne irgendeinen konkreten Hinweis.
»Das Opfer ist Paul Hinderks«, sagte Stahnke. »Er hat von Beschimpfungen und Drohungen erzählt, ohne allerdings konkret zu werden. Da müssen wir ansetzen.«
Kramer nickte und zückte seinen Notizblock. »Ich habe mir die Rede zusammenfassen lassen, die er gestern auf der Maikundgebung gehalten hat«, berichtete er. »Schwerpunktthemen: Tarifflucht der Arbeitgeber, Niedriglöhne trotz guter Konjunktur, Lohndruck durch unterbezahlte Leiharbeit. Und die neue Rechte.«
»Die neue Rechte?« Das hatte Stahnke dem kleinen staubgrauen Gewerkschaftsbevollmächtigten gar nicht zugetraut. Auf den ersten Blick jedenfalls. Doch Hinderks hatte sich durchaus kampflustig präsentiert. Jetzt war er tot.
Kramer nickte. »Muss wohl ein Thema sein in den Gewerkschaften. Da fischen die Rechten nach Stimmen, haben auch schon einige Betriebsräte in der Hand. Das läuft über die Neidschiene: Den Migranten steckt der Staat alles in den Hintern, und ihr könnt euch kaum den Mallorca-Urlaub leisten! Das ist plump, verfängt aber. Immer mehr Arbeiter und Angestellte wechseln direkt von der SPD zu den Rechten. Also den ganz Rechten.«
Stahnke signalisierte, dass er noch mehr trinken wollte, und bekam das Mundstück des Bechers zwischen die Zähne geschoben. Das war damals in Weimar genauso, dachte er, während er gierig trank. Vielmehr in der Weimarer Republik. Damals liefen auch und gerade die Arbeiter, die zuvor Anhänger von SPD und KPD gewesen waren, in Scharen zu den Nazis über, ohne Umweg über gemäßigte Parteien. Weil die Nazis ihnen das Blaue vom Himmel versprachen, das Heil sozusagen. Und weil sie ihnen einen Sündenbock lieferten, der an allem schuld sein sollte. Praktisch, so musste sich niemand an die eigene Nase fassen.
Genug getrunken; er hob die flache Hand. »Die neuen Rechten also. Wo sollen wir da anfangen? Bei der AfD? Fraglich. Die meisten Rechtsnationalen heutzutage sollen doch gar nicht parteigebunden sein, mehr so freischwebend. Wie die Reichsbürger oder die Identitären. Tausende von Einzeltätern sozusagen.«
»Gut vernetzt sind die trotzdem«, sagte Kramer. »Das Einzeltätertum ist eine reine Schutzbehauptung. Wenn es drauf ankommt, halten die alle zusammen.« Der Oberkommissar stellte den Schnabelbecher weg. »Aber was heißt denn wir? Du bist verletzt, du bleibst schön in der Waagerechten. Es kommt sowieso Ersatz aus Aurich.«
Aurich. Da war doch noch etwas. Stahnke stemmte sich mit den Ellenbogen hoch. Die angebrochene Rippe schmerzte wie verrückt, aber je klarer er im Kopf wurde, desto besser ließ sich das aushalten, so widersinnig ihm das auch vorkam. Angebrochen war eben nicht gebrochen. Aber was war denn da bloß vorhin in Aurich gewesen?
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