Bald erkannte er seinen Fehler. Er sah auf einmal kleine Lichtschlangen, die vor Schmerz pulsierten, wenn er die Augen schloss. Bald brannten seine Augen, als hätte ihm irgendein Fiesling Sand hineingerieben, und er konnte vor Schmerz kaum blinzeln. »Verblitzung«, sagte der Arzt. Seine Hornhaut war verbrannt. Zwei Wochen lang musste er Augenklappen tragen und durfte sie nur ganz leicht anheben, um seine Füße zu sehen, wenn er durchs Haus tappte. Zwei Wochen, in denen er Angst hatte, er würde nie mehr richtig sehen und die Eichhörnchen somit vor ihm sicher sein. Seine Sehfähigkeit wäre verloren gewesen wie die Stimme seiner Mutter.
Wie früher trat Rory oberhalb der Werkstatt aus dem Wald. Die Fenster glühten golden in der hereinbrechenden Dunkelheit. Es war im Grunde nur eine alte, verwitterte Scheune, aber Eli hatte eine Betonplatte gegossen, um den abfallenden Boden auszugleichen. Über den schweren Eichentüren auf Laufrollen aus Metall hing ein handgemaltes Schild: HOWL MOTORS. Eli lag auf seinem Rollbrett unter einem 51er Mercury, der goldgelb lackiert war. Nur seine Stiefel schauten heraus. Rory trat gegen den einen.
»Wer ist da?«
»Als hättest du mich nicht kommen hören.«
Eli kam unter dem Wagen hervorgerollt, Hände und Gesicht geschwärzt wie bei einem Bergarbeiter. Mit einem Lappen, der noch schmutziger aussah als der Rest von ihm, wischte er sich das Gesicht ab.
»Gib mir bitte mal die Zigaretten.«
Rory reichte ihm das Päckchen Lucky Strike, das auf einem Stuhl neben ihnen lag, wobei er sich vorher selbst bediente.
»Gern geschehen«, sagte Eli. Er zündete seine an, ohne von dem Rollwagen aufzustehen, legte den Kopf zurück und stieß den Rauch aus. »Hab gehört, du hattest Ärger gestern Abend.«
»Du bist ’n noch größeres Klatschmaul als Granny.«
Eli schnipste Asche aus seinem Bart. Der trockene, wirre Filz war reif für ein Buschfeuer.
»Hier kommen ’ne Menge Autos vorbei, und in jedem sitzt einer mit ’nem losen Mundwerk. Du glaubst also, dass Muldoon dahintersteckt?«
Rory zog den Stuhl heran, wobei die Rollen quietschend über den Boden holperten. Die Hände zwischen den Knien, schnipste er mit dem Daumen Asche von seiner Zigarette.
»Ich glaube nicht, dass sie besonders scharf drauf sind, es zuzugeben.«
»So, wie es gelaufen ist, nicht«, sagte Eli. »Vielleicht hat der Cooley-Junge sie dafür angeheuert.«
»Der scheint ja was ganz Besonderes zu sein.«
»Nicht gerade der Schlaueste«, sagte Eli. »Aber wie ich höre, gleicht der kleine Wichser das mit seiner Bösartigkeit aus. Es heißt, er sei mit acht von einer Mokassinschlange gebissen worden. Ist angeschwollen wie ’n Wetterballon. Seither tickt er nicht mehr ganz richtig. Hat letztes Jahr in Linville einen Jungen getötet, der ihm einen lahmen Coonhound verkauft hat, den er als Zuchthund haben wollte. Hat sich mit Notwehr rausgeredet, aber ich weiß nicht so recht. Es heißt, er hat den Hund von ’ner Brücke geworfen.« Eli nickte, noch immer flach auf dem Rücken liegend, und sah dabei zu, wie der Rauch zur Decke aufstieg. »Mit so jemandem stimmt etwas ganz und gar nicht, und zwar von Geburt an.«
»Ich bin drüben ein paar von der Sorte begegnet.«
Eli rollte auf einem Ellbogen näher heran und sah ihn an. »In Korea?«
Rory nickte.
»Wie war das?«, fragte Eli.
Rory blickte auf die heruntergebrannte Zigarette zwischen seinen Fingern und kaute auf seiner Lippe.
»Es war ein Ort, an dem man die wirklich finsteren Gesellen auf seiner Seite und hinter sich haben wollte. Dort drüben war schlecht gut.«
»Verdammt«, sagte Eli. »Das ist heftig.«
»Ja.«
»Hattest du Angst?«
»Die ganze Zeit.«
Eli nickte.
»Also dieser Cooley-Junge ist keiner, dem man den Rücken zudreht. Fährt den Hudson in der modifizierten Klasse unten auf der Rennstrecke. Macht auch zwei-, dreimal die Woche Fahrten damit. Diese Muldoons sind ganz dicke mit dem Sheriff, seit du weg bist.«
»Was ist mit diesem neuen Steuereintreiber aus Washington?«
Elis Zigarette ragte gerade aus seinem Mund und qualmte wie ein winziger Schornstein.
»Sein Name ist Kingman. Es heißt, er hat ein paar Countys oben in Virginia völlig trockengelegt. Ist nicht zimperlich im Umgang. Soll mal bei der Army gewesen sein. Sondereinheit und so.« Eli schüttelte den Kopf. »Bist in schwierigen Zeiten nach Hause gekommen.«
Rory ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit seinem heilen Fuß aus.
»Wenigstens bin ich zu Hause«, sagte er. »Größtenteils jedenfalls.«
Im Dunkeln und ohne Taschenlampe erklomm er den Berg, eine Welt in Schwarz, Blau und Silber. Das blasse Mondlicht fiel diffus zwischen den Laubbäumen hindurch, und der Wind erhob sich zwischendurch und pfiff durch die Bäume. Der Pfad führte bis zum Gipfel hinauf, den man nur erahnen konnte. Darüber ein Meer aus Dunkelheit und eine seltsame Sternenornamentik.
Er traf Granny schlafend auf der Veranda an. Ihre Stricknadeln lagen in der flachen Mulde zwischen ihren Knien und der teilweise abgewickelte Garnball zwischen ihren großen Männerstiefeln. Die Pfeife lag auf dem Tisch neben ihr, aus dem Kopf war Asche gerieselt. Ihr Kinn lag auf ihrer Brust und hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Er nahm sie hoch, leicht wie ein Mädchen, und trug sie in ihr Zimmer. Dort bedeckte er sie mit ihrer alten Steppdecke, die sie geerbt hatte. Die äußeren Schichten waren im Laufe der Jahrzehnte unter dem schlafenden Körper speckig geworden, während die Füllung noch immer aus älteren Decken bestand. Er steckte sie unter ihren Füßen, Ellbogen und Schultern fest, ging hinaus und öffnete die Klappe des Holzofens. Ein Maul voller glühender Kohlen. Er legte zwei Scheite Weißeiche hinein, die sie auf der Veranda aufgeschichtet hatten, heiß brennendes Holz für kalte Nächte, und sorgte dafür, dass es brannte, bevor er ging.
Im Westen zog ein Sturm auf. Er konnte ihn auf der anderen Bergseite hören, wo er sich wie ein Meeresgeist gegen den rauen Granit warf. Er trat von der Veranda und blickte zum Gipfel hinauf. Der Himmel leuchtete blauweiß auf, ein flüchtiger Schimmer, der im Kontrast zu dem gezackten und dunklen Berg stand, ein Schutzschild gegen den Schnee und Regen, die von den Bergkämmen und den Tälern im Westen her kamen. Der Wind pfiff vom Berg herab und strich kalt über die Wiese, und er musste an Korea denken. An den Changjin-Stausee, den Herbst 1950. Die unwirtlichste Landschaft, die man sich vorstellen konnte, nur Schnee und Felsen und verkohlte Bäume auf den gefrorenen Feldern und den steilen Pässen von Toktong und Funchilin. Ein Land, scheinbar dafür geschaffen, dass Menschen dort starben.
Was sie auch taten.
Eine Kaltfront aus Sibirien mit siebenunddreißig Grad minus und siebenundsechzigtausend chinesische Infanteristen aus der Mandschurei rückten heran. Die 1. Marineinfanteriedivision war weder auf das eine noch auf das andere vorbereitet. Rory war während der gesamten siebzehn Tage dort. Auch während der siebzehn Nächte. Wenn bei den nächtlichen Ausleuchtungsrunden der Himmel erstrahlte, konnte man die Chinesen die Hänge herunterkommen sehen, die sich aus Bachbetten und Gräben erhoben hatten wie Hornissen, die von einem Bodennest ausschwärmten. Dann Dunkelheit, Blitze, Schreie. Am Morgen waren die Bergkämme dunkel und das Blut hart wie Stein. Die Marines bauten aus den gefrorenen Leichen einen Wall und warteten auf die darauffolgende Nacht. Als ihre Waffen wegen der Kälte blockierten, kämpften sie mit Messern und Schaufeln und Steinen. Die chinesischen Infanteristen waren jung, und sie trugen keine Helme.
An seinen ersten Getöteten erinnerte sich Rory am deutlichsten, und er suchte ihn nach wie vor im Schlaf heim. Er und Sato und vier weitere hatten sich hinter einer Felsnase am Rand eines schmalen Hohlwegs verschanzt. Die Kompanien auf den Hängen wurden in die Luft gesprengt und drängten sich zur Verteidigung in Gruppen zusammen. Es war nach Mitternacht, und die meisten ihrer Gewehre waren unbrauchbar, das Waffenöl im Schloss gefroren, der Schlagbolzen festgeklemmt. Sie hörten das Pfeifen chinesischer Offiziere und sahen, wie die feindliche Infanterie aus der Deckung kam, um anzugreifen. Die Soldaten strömten den fernen Hügel hinunter; ihre Maschinenpistolen erzeugten sternförmige Blitze in der Dunkelheit, ihre Reihen bestens ausgestattet mit Messern und Knüppeln und Steinen. Die orangefarbenen Leuchtfeuersalven aus den schweren Maschinengewehren fraßen sich in sie hinein, und ihre Körper barsten in rosa Wolken und Schreien. Ein paar von ihnen, die sich auf den Hang zurückziehen wollten, wurden von eigenen Offizieren niedergeschossen, der Rest kletterte über die Toten hinweg, die alle seltsam verrenkt im Bachbett lagen, und bahnten sich kriechend einen Weg hinauf zu den Marines.
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