»Haben die Muldoons euch angestiftet?«
Der Junge auf der Motorhaube klopfte eine Zigarette auf den Griff seiner Schrotflinte, steckte sie sich in den Mund und zündete sie mit derselben Hand an, wobei er durch den aufsteigenden Rauch hindurch grinste.
»Es heißt, du bist ein Kriegsheld.«
Rory nahm das Gewicht von seinem Holzbein.
»Ich bin nicht auf Ärger aus«, sagte er.
Der Junge auf der Motorhaube nickte und zog an seiner Zigarette, wobei sich seine Wangen im Licht der einzelnen Glühbirne verdunkelten. Er zeigte mit der Zigarette auf Rory.
»Tja, hast ihn wohl doch gefunden. Die Frage ist nur, wie viel davon.«
»Was wollt ihr?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Geld. Whiskey. Geht beides.«
»Whiskey ist alle.«
»Dann weißt du ja, was ich will.«
Rory meinte, Zikaden zu hören. Ihr rhythmisches Rufen im Chor. Als wären sie aufgeschreckt worden. Im einen Moment klang es noch laut und im nächsten nicht mehr. Er bekam ein warmes Gefühl in der Brust, wie nach dem ersten Schluck Whiskey.
»Es steckt in meinem Bein«, sagte er. »Ich verstecke es dort.«
Der Junge lachte, und seine Begleiter auch. Sie glucksten vor sich hin, wippten auf ihren Absätzen und drückten ihre Bäuche gegen die Waffen an ihrem Gürtel. Stolz.
»In deinem Holzbein? Du machst wohl Witze«, sagte der Junge. »Ist ja zum Brüllen.«
»Ja«, sagte Rory.
»Dann zeig mal her.«
Rory stieg die Stufen hinunter. Die schwache Glühbirne über dem Türrahmen erzeugte einen großen Schatten, der sich rasch auf die anderen zubewegte. Unsicher veränderten sie ihre Position, als würde etwas vor ihren Füßen auslaufen. Etwas, mit dem sie nicht in Berührung kommen durften und das so kalt und dunkel wie die von der Sonne unberührten Talkessel war. Eine dunkle Gestalt stand jetzt vor ihnen, die von der nackten Glühbirne von hinten angestrahlt wurde. Sie beugte sich hinunter und begann ihr Hosenbein aufzukrempeln, entblößte Zentimeter um Zentimeter den glänzenden schwarzen Schaft eines Kampfstiefels.
Der Junge ließ sich von der Motorhaube gleiten und betrachtete das Holzbein.
»Wie hat sich das angefühlt, als es dir abgeschossen wurde?«
»Schlimm«, sagte Rory.
»Wie finden die Mädchen das?«
»Ich frag sie nicht.«
Der Junge blickte mit leicht schräg gelegtem Kopf zu ihm hinunter. Er bewegte dabei den Flintenlauf mal hierhin, mal dorthin, und seine Finger spielten an dem Doppelabzug.
»Dafür hat Gott wohl die Huren erschaffen.«
Rory hatte das Hosenbein gerade weit genug über den Stiefel gezogen, dass das polierte Ahornholz da glänzte, wo eigentlich sein Bein sein sollte. Es gab einen Typen in Yelson’s Holler, den Granny kannte und der Holzarbeiten machte. Vor allem Entenattrappen, die er an die reichen Wasservogeljäger an der Küste verkaufte. Mit Zuckerahorn fing er erst so richtig an zu arbeiten, nachdem er Rory kennengelernt hatte. Es war ein 32er Automatik-Colt, ein Pocket Hammerless, der in die Wade des Holzbeins eingelassen war. Eine gebläute Pistole mit geriffeltem Griff und ohne einen Hammer, der das Ziehen verlangsamt hätte. Rory ließ die Hand unter das Hosenbein gleiten und löste sie heraus. Mit einer einzigen Bewegung richtete er sich auf und schoss dem Jungen ins Schienbein.
Die Schrotflinte flog dem Jungen mit einem Schrei aus der Hand, und er fiel gegen den Wagen. Er griff nach dem dunklen Fleck auf seiner Hose, aber seine Hände hielten dicht über der Wunde inne. Ein gezackter roter Mund und gesplitterter Knochen wie weiße Zähne. Er betrachtete sie mit weit aufgerissenen Augen, als hätte er noch nie das Innere eines menschlichen Körpers gesehen. Seine Freunde waren davongestürzt, wie Rory es vorhergesehen hatte. Er humpelte näher zu ihm hin. Der Junge blickte wie ein frisch zum Glauben Bekehrter mit heruntergeklappter Kinnlade zu ihm hinauf.
Die Worte kamen ganz unerwartet aus Rorys Mund.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Die Jungs waren verschwunden, zusammen mit ihrem Anführer, der jammernd auf dem Rücksitz einer verrosteten Limousine gekauert hatte. Rory hatte die anderen aus dem Dunkel zurückgerufen und ihnen erklärt, wie sie das Bein des Jungen bandagieren mussten, und den Weg zum Tierarzt beschrieben, der ein Säufer war und die nächtlichen Opfer von End-of-the-Road versorgte. Er hatte sogar die zwanzig Dollar gezückt, die sie brauchten, damit der Mann die Tür aufmachte. Die Gesichter der Jungen waren blass gewesen. Sie hatten sich unablässig bei ihm bedankt. Schließlich waren sie mit knatterndem Auspuff zwischen den Bäumen hindurch davongebraust.
Erst nachdem sie verschwunden waren, bemerkte Rory, dass sie – oder jemand anders – seine Reifen aufgeschlitzt hatten. Er stieß einen mit dem Zeh an, als würde er sich davon wieder auffüllen.
»Mist.«
Er ging zur Tür des Hurenhauses. Verriegelt. Niemand kam, als er dagegenschlug. Er fragte sich, was in dem Drink gewesen war, den sie ihm hatten geben wollen. Er blickte über die Straße: eine alte Sinclair-Tankstelle, die schon seit Jahren geschlossen war. Die Fenster waren mit Zeitungspapier zugeklebt, weshalb man nicht hineinsehen konnte. Die grünen Sinclair-Dinosaurier auf den Schildern sahen aus, als würden sie zerlaufen. Ein kleiner Bau, der normalerweise dunkel war, wo heute Abend jedoch die Fenster pulsierten und Schatten sich hinter dem angestrahlten Zeitungspapier bewegten. Die Luft bebte vom Klang der Musik.
Er ging darauf zu. Zwei Zapfsäulen standen davor, schwerkraftgetrieben, jede mit einer Glaskugel obendrauf. Die eine war kaputt, war nur noch eine Schale mit gezackter Kante. Die andere war mit brauner Flüssigkeit gefüllt. Regenwasser vielleicht. Kein Whiskey. Dann hätte ihn schon jemand getrunken.
Er überquerte die Straße, wobei der Kies unter seinen Stiefeln knirschte. Die Werkstatttore waren geschlossen, und die papierverklebten Fenster leuchteten. Schatten fielen auf die Lichtstreifen, hoben und senkten sich, taumelten und wankten wie züngelnde Flammen. Die Luft summte und knisterte. Etwas Wildes, Verstörtes lag darin. Etwas Elektrisches. Gedämpfte Tamburine und eine jaulende Stahlsaitengitarre durchdrangen die Luft. Stark vibrierendes Metall und kreischende Saiten, ein Jaulen und Lärmen, als würde das Ende der Welt verkündet, jedoch lebendig und die Fersen beflügelnd. Er konnte beinahe sehen, wie die Musik sich in wild zuckenden weißen und goldenen Blitzen entlud, als er sich dem Ort näherte, und Worte gab es auch, geheult, gekreischt und gesungen. Ein paar kannte er, andere nicht, ein paar waren in einer fremden Sprache. Trotzdem wusste er, was sie bedeuteten. Wovon sie erfüllt waren.
Von Lobpreisung.
»Das hier ist wahr!« Die Haare des Priesters waren mit Gel zu einem Ducktail zurückgestrichen, und sie waren rabenschwarz, obwohl sein Gesicht alt war, und er trug eine Schnürsenkelkrawatte und ein gebügeltes Button-down-Hemd mit kurzen Ärmeln. Er hielt das Buch der Bücher hoch über seinen Kopf. Die Seiten waren zerfleddert und die Buchdeckel voller Flecken. »Es ist das Wort Gottes, und ein anderes darf es nicht geben.«
Amen .
»Wer auch immer den Namen des Herrn anruft, soll gerettet werden.«
Amen .
»Aber wir leben in einer viel zu stummen Welt, nicht wahr? Einer Welt voller närrischem Geschwätz, jedoch ohne etwas zu sagen. Ohne Seinen Namen. Das, meine Freunde, das ist die eigentliche Stille des Todes.«
Ja, das ist sie .
»Der spirituelle Tod!«
Ja .
Er wedelte mit dem Buch der Bücher hoch über seinem Kopf.
»Wo das rettende Wort doch hier ist, meine Freunde! Genau hier!«
Hallelujah .
»In der letzten Stunde wird Er die Spreu vom Weizen trennen. Die Bäuche der Nationen werden weit offen sein, und die Reuelosen werden von einer Feuersbrunst verschlungen.«
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