Exkurs: MENSCH, SO’N KINTOPP! EIN FERNSEHKABARETT
Seit dem 21. Dezember 1952 sendete das DDR-Fernsehzentrum Berlin-Adlershof sein Versuchsprogramm werktags von 20:00 bis 22:00 Uhr. In dessen Frühphase herrschte Knappheit an Programmen. Improvisationstalent war gefragt. Als Redakteur für Theater, Film und Literatur war Wolfgang Stemmler im November 1952 ins Fernsehzentrum Berlin-Adlershof versetzt worden und versuchte, aus den vorhandenen bescheidenen Mitteln das Beste zu machen. Am 2. April 1953 erschien aus heiterem Himmel der Schauspieler Ludwig Trautmann (1885 bis 1957) aus West-Berlin und bot Stemmler Stummfilme zum Kauf an, die bei ihm im Keller lagerten. Stemmler griff zu, ersetzte die alten Zwischentitel durch neue, witzigere und ließ den Berliner Schauspieler Gerhard Wollner (von 1975 bis 1978 Sketchpartner in Dieter Hallervordens ARD-Serie NON-STOP NONSENS) im Kostüm und in der Maske eines zeitgenössischen Film-Erklärers die unfreiwillig komischen Stummfilme nach lustigen Texten von Gerhard Rentzsch kommentieren. Für die musikalische Untermalung sorgte Hans-Hendrik Wehding. Der Titel der etwa 25 Minuten langen Sendung lautete MENSCH, SO’N KINTOPP! EIN FILMKABARETT. Wollner präsentierte die Streifen in dem nachempfundenen Admirals-Kinematographentheater und versorgte die Fernsehzuschauer mit Wissenswertem über die ersten Berliner Kinos, die Lage von Filmateliers und den Sitz der Komparsenbörse (Stemmler in: Riedel, S. 79). Das Admirals-Kino bzw. die Admirals-Lichstpiele hatte es noch mindestens bis 1942 in der Berliner Friedrichstr. 101/102 gegeben ( Reichs-Kino Adressbuch 1933, S. 313, und 1942, Ostdeutschland/Groß-Berlin, S. 3).
Es entstanden zwei Folgen von MENSCH, SO’N KINTOPP! EIN FILMKABARETT, die an den Montagen 6. und 20. April 1953 gegen 21:30 Uhr zum Schluss des Tagesprogramms gesendet wurden. Zur ersten Sendung druckte die Zeitschrift Unser Rundfunk folgenden Text ab: «Erinnern Sie sich noch an die Filme, die uns heute so unfreiwillig komisch anmuten? Sie heißen ES FIEL EIN REIF IN DER FRÜHLINGSNACHT oder EINE MOTTE FLOG ZUM LICHT. Wir wollen Ihnen heute auch einen solchen Film zeigen, nämlich DIE RACHE DER FRAU SCHULZE. In westdeutschen und West-Berliner Kinos gibt es auch heute noch ‹Kintopp›. Aber sehen Sie sich unser Filmkabarett einmal an. Bitte Platz nehmen, die Herrschaften. Rücken Sie ruhig ein bisschen dichter zusammen. Nur keine Bange. Hier tut keiner dem anderen nischt.» Mit dem «Kintopp» in West-Berliner Kinos könnten Laurel-und-Hardysowie Chaplin-Filme gemeint sein, die seit 1948 in der Tri- und Bizone und dann in der Bundesrepublik liefen.
Über den Inhalt der zweiten Folge ist nichts bekannt. Ein Teil der ersten Folge wurde am 2. September 1953 im Rahmen des Messe-Sonderprogramms zur Leipziger Messe vom 30. August bis 10. September 1953 gesendet. Da ein internationales Publikum in Leipzig weilte, fiel das TV-Programm üppiger aus. Pausen eingerechnet lief es täglich von 9:00 bis manchmal 22:00 Uhr. Nach Unser Rundfunk war die Sendung ein «Super-Gala-Monster-Programm von Wolfgang Stemmler». Aus der ersten Folge von MENSCH, SO’N KINTOPP! stammte DIE RACHE DER FRAU SCHULZE mit Gerhard Wollner. Aus anderen Sendungen wurden KITSCH-AS-KITSCHCAN, HALLO, CHRISTIAN sowie BIANKA MARIA UND DER TRIEFENDE DOLCH (mit Werner Peters) entnommen.
Weitere Folgen von MENSCH, SO’N KINTOPP! haben sich in Unser Rundfunk nicht finden lassen. Der Fernsehdienst des DDR-Fernsehens wurde erst ab 1962 herausgegeben. Ob der 1920 geborene Stemmler Auftritte von Jerven, Althoff oder Martin miterlebt hatte, oder bis Frühjahr 1953 auch solche von Schwier und Elfers, lässt sich nicht nachvollziehen. Jedenfalls war mit MENSCH, SO’N KINTOPP! der Film-Erklärer schon vor den bundesdeutschen Slapstickserien ins Fernsehen gekommen und karikierte vor der ARD-Serie HEUTE LACHT MAN DARÜBER (1962/63) dramatische Stummfilme. Umgekehrt dürften Stemmlers beide Folgen kaum eine Inspiration für Schwier und Elfers gewesen sein. Sie hatten bereits zu ihrem Konzept gefunden. Fernsehgeräte, mit denen man das DDR-Versuchsprogramm im Frühjahr und Spätsommer 1953 im so genannten Zonenrandgebiet hätte empfangen können, waren auch in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Bevölkerung von gut 50 Millionen Bürgern noch rar gesät. Nach Angaben der Deutschen Bundespost waren für das Bundesgebiet einschließlich West-Berlin im April 1953 erst 1 524 Fernsehteilnehmer angemeldet. Bis September des Jahres stieg die Zahl auf 3 961 an ( http://www.fernsehmuseum.info/fernsehzuschauer-statistiken.html).
CHARLIE CHAPLINS LACHPARADE
Der jahrelange Zuspruch, dessen Schwier und Elfers sich mit Filmen von Fidelius erfreuten, mündete in den Plan, ihren Auftritt in einem eigens produzierten Film festzuhalten. Schwiers vormalige Kontakte und Mitarbeit ermöglichte 1957 die Realisierung bei der Göttinger Filmaufbau GmbH. An der Kamera stand Karl Schröder, den Schnitt besorgte Caspar van den Berg. CHARLIE CHAPLINS LACHPARADE war das Ergebnis. Auch darüber befindet sich nichts im Nachlass der Göttinger Filmaufbau GmbH. Der Film ist die Blaupause für das spätere endgültige Format der ersten Staffel von ES DARF GELACHT WERDEN. Verliehen wurde der 87-minütige Film von Kirchners Neue Filmkunst. Die FSK gab ihn am 13. Juni 1957 nach den Bestimmungen des neuen Jugendschutzgesetzes für Kinder ab sechs Jahren frei, «da diese Hampelmänner-Darstellungen sicherlich Kinder und Jugendliche bei weitem mehr als Erwachsene amüsieren werden» (Nr. 14 595). Im Jugendprotokoll des Arbeitsausschusses der FSK wurde weiter ausgeführt: «Der Film ist eine Erinnerung an die Frühzeit des Stummfilms, als er noch in Schaubuden, getragen von den Misstönen eines verstimmten Klaviers und kommentiert von einem seiner Mission bewussten Sprecher über die Leinwand zitterte.»
In CHARLIE CHAPLINS LACHPARADE macht sich ein kleinstädtisches Publikum der Kaiserzeit abends auf den Weg in eine Gaststätte, in der einige «der schönsten Filme» von Charlie Chaplin, dem «unübertroffenen Meister des Humors», gezeigt werden sollen. Angekündigt wurde das «Attraktions-, Fest- und Galaprogramm […] für die kunstliebenden Bürger unserer Stadt» ähnlich wie auf dem Handzettel für KINTOPP ANNO DAZUMAL mit reißerischen Worten «Lebende Bilder – getreu der Wirklichkeit. Keine Hypnose! Kein Bluff! Keine Suggestion!», das Ganze «vorgeführt und persönlich erläutert von Herrn Wanderschausteller Werner, musikalisch untermalt von Herrn Kapellmeister Konrad». Nach dem Kassieren des Eintritts von «drei Groschen» stellte Schwier, mit Zwirbelschnurrbart, Mittelscheitel-Frisur und Melone, sich und Elfers als Kapellmeister Konrad am Pianoforte vor, «der späterhin noch durch eine komplette Musikkapelle ergänzt» werden soll. Dabei zeigt Schwier auf ein altes Grammophon. Im preußisch-bestimmten, schwadronierenden Tonfall hält er dem zahlenden Publikum zunächst eine kleine Ansprache unter anderem über bleibende Werte, die es mit nach Hause nehmen möge – und da greift ein Taschendieb im Publikum unbemerkt natürlich gleich zu. Denjenigen, die womöglich seine Erläuterungen nicht verstehen, bietet er nach der Vorstellung «gegen ein geringes Entgelt» eine nochmalige Unterrichtung an. Nach einigen Verhaltensmaßregeln («Schießen Sie nicht auf den Pianisten» und «Sorgen Sie [im Dunklen] dafür, dass die Sittlichkeit im Saal gewährleistet bleibt») ist Schwiers sprichwörtlich gewordene Aufforderung festgehalten: «Ich gebe das Zeichen, vorausgesetzt, dass es der Operateur sieht.» Während der Pause waren «Toilettenschlüssel und sonstige Erfrischungen am Büfett» erhältlich.
CHARLIE CHAPLINS LACHPARADE, 1957: Wanderschausteller Werner
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