»Wann sind wir da?«
»Gleich«, schnaufte Lena.
Als sie den Acker erreicht hatten, blieb sie kurz stehen und sah sich erneut um. »Ab zum Hof«, sagte Lena mehr zu sich selbst als zu Jean. Dann rannte sie los.
Kurz darauf hatte sie die Scheune der Tönnes erreicht. Sie rannte um einen Haufen alter Bretter herum. Von dort aus suchte sie die Waldgrenze mit ihrem Fernglas nach Bewegungen ab.
Nichts.
Sie verließ ihre Deckung und ging um die Scheune. Mit großer Erleichterung stellte sie fest, dass Eckard Tönnes’ Toyota Land Cruiser vor dem Haus stand. Er schien zu Hause zu sein. Sie ging auf die Haustür zu, die eine Handbreit offen stand. Hier auf dem Land nahmen es die Leute – mit Ausnahme von ihr – mit dem Zuschließen von Türen nicht so genau. Doch Lena überkam ein ungutes Gefühl. Vorsichtig drückte sie die Tür ganz auf.
»Eckard? Sabine?«
Keine Antwort.
Lena lauschte. Irgendwo spielte Musik. Ein bekannter Schlager dudelte das Bild einer heilen Welt vor sich hin. Ansonsten war es still.
»Hallo! Jemand zu Hause?«
Wieder keine Antwort.
Sie betrat den breiten Flur. Ein paar Meter weiter stand eine kleine Kommode, auf der sich die Ladestation für ein mobiles Festnetztelefon befand. Doch das Telefon selbst war nicht zu sehen.
»Hallo?«
Sie machte einen Schritt in Richtung Wohnzimmertür, die direkt neben der Kommode vom Flur abging. Ihre Hand legte sich auf die Klinke und drückte sie langsam herunter. Dann schob sie vorsichtig die Tür auf.
Warme Luft strömte ihr entgegen. Wahrscheinlich war der Kachelofen an. Lena sah sich in dem mit alten Eichenmöbeln vollgestellten Zimmer um. Abgesehen von Tönnes’ Katze, die Lena verschlafen ansah, war niemand hier. Sie ging in den Raum hinein und suchte nach dem Telefon. Dann hörte sie Schritte im Flur.
»Eckard?« Sie drehte sich zur Tür um.
Ein fast zwei Meter großer Mann tauchte im Türrahmen auf. »Ja. Der Eckard.« Sein breites Gesicht wurde durch das freundliche Grinsen noch ein wenig breiter. Er hatte seinen alten, löchrigen Norwegerpulli an, den er eigentlich immer trug. Vielleicht hatte er aber auch mehrere davon. Seine störrischen grauen Haare waren voller Sägespäne. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Ich muss dringend telefonieren!«, sagte Lena, der schon in dem Moment, als sie den Satz aussprach, bewusst wurde, wie seltsam das klingen musste.
Eckard sah Lena an, als hätte er sie nicht richtig verstanden. »Alles gut mit dir?«
Lena spürte, wie sich Jean in der Kraxe bewegte. »Hallo, Eckelhard!«
»Ach!« Er ging ein paar Schritte auf sie zu. »Und der kleine Räuber besucht mich auch mal wieder. Da hätte sich Sabine aber gefreut. Die ist dieses Wochenende mit ihrem Chor unterwegs.«
»Entschuldige, Eckard.« Auch wenn es ein wenig unhöflich war, Lena musste so schnell wie möglich Michael anrufen. »Wo ist dein Telefon? Ich erkläre dir alles später.«
Eckard zog sich ein paar Sägespäne vom Pullover. »Ihr Stadtmenschen!« Er schüttelte den Kopf. »Warum zieht ihr eigentlich aufs Land, wenn ihr hier so weitermacht wie vorher?« Er knuffte Jean in die Wange. »Stimmt’s, mein Junge?« Dann ging er zurück in den Flur. »Ich mach uns jetzt erst mal einen Kaffee. Und dann suche ich das Telefon. Keine Ahnung, wo das wieder rumliegt.«
»Eckard …« Lena wollte gerade dazu ansetzen, ihm alles zu erklären, da meinte sie Motorengeräusche zu hören. Sie spitzte die Ohren. Das Brummen eines Dieselmotors, das kurz darauf wieder verklang. Dann das leise Rollen von Schiebetüren.
»Noch mehr Besuch?«
Ohne auf Eckards Frage einzugehen, sah sich Lena hektisch um. Vom Wohnzimmer führte eine Tür zum benachbarten Esszimmer. »Ich bin nicht hier! Verstanden?« Eckard sah ihr verdutzt hinterher, wie sie zur Tür sprang und sie hinter sich zuzog. Vorsichtig legte sie ihr Ohr dagegen und horchte.
»Hallo?«, rief eine ihr unbekannte Stimme.
Sie hörte die schweren Schritte von Eckard, die sich in Richtung Haustür entfernten.
»Guten Tag.«
»Ist Frau Bondroit bei Ihnen?«
»Nein. Warum?« Eckard hielt sich zum Glück an ihre Bitte.
»Wir müssen sie dringend finden«, sagte eine andere Stimme. Wie Lena verwundert feststellte, war es die Stimme von Michael. Das meinte sie zumindest.
»Und wer sind Sie?« Das war wieder Eckard Tönnes.
Die Stimmen wurden leiser. Sosehr Lena auch ihr Ohr gegen die Tür presste, sie konnte nur einzelne Wortfetzen verstehen. Also öffnete sie vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer und ging langsam hindurch in Richtung Flur.
»Was hat sie denn ausgefressen?«, hörte sie Eckard fragen.
Jetzt erschallte ein Lachen. Auch das von Michael.
»Jungs!« Coppenfeld holte so tief Luft, dass die Knöpfe seiner Weste spannten. Er trug einen seiner Glencheck-Anzüge, darunter ein weißes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen, auf denen das Familienwappen der von Coppenfelds eingraviert war. »Es gibt da etwas Unschönes, von dem ich euch berichten muss.«
Sie waren beim Hauptgang, einem Rehbraten mit diversen Beilagen, angelangt. Frederick von Coppenfeld – oder Coppi, wie sie ihren Freund gerne nannten – hatte sie, wie jedes Jahr an diesem Tag, zur Wildschweinjagd auf sein Schloss in Oberfranken eingeladen. Traditionell ging der Jagd ein üppiges Essen voraus. Es war ein lieb gewonnenes Ritual, mit dem sie ihre lange Freundschaft feierten, mit dem sich aber vor allem auch Coppenfeld für seine Kochkünste feiern ließ. Kochen war seit ein paar Jahren seine neue Religion und der Herd der Altar, auf dem er die erlesensten Jagd- und Importprodukte opferte. Wollte man es sich mit ihm nicht verscherzen, hielt man mit Kritik bezüglich seiner Kochkünste lieber hinterm Berg.
Scheidung, war der erste Gedanke, der Berger bei Coppenfelds Worten durch den Kopf schoss. Warum sonst diese theatralische Ankündigung? Die Ehe zwischen Coppenfeld und seiner Frau glich, soweit Berger wusste, schon seit Jahren nur noch einer Arbeitsgemeinschaft, die vergessen hatte, an welchem Projekt sie arbeitete. Oder vielleicht war das Projekt, das im Wesentlichen dem Ziel der Reproduktion zur Fortführung der Familienlinie sowie der Aggregation von Vermögen galt, auch einfach nur abgeschlossen.
»Ich setze auf eure absolute Vertraulichkeit.« Coppenfeld sah bedeutungsschwanger in die Runde.
Oder vielleicht eine schwere Krankheit?, überlegte Berger. Denn auch wenn es zwischen Coppenfeld und seiner Frau nicht mehr ganz rundlief, sie beide gehörten immerhin zum alten deutschen Adel, und der Adel ließ sich nicht einfach scheiden. Schließlich bedeutete eine Scheidung Vernichtung von Kapital, ein Umstand, den das Proletariat nicht zu scheuen schien, wenn es ihn überhaupt durchschaute, der dem entromantisierten Adel jedoch zutiefst zuwider war. Bevor man sich scheiden ließ, einigte man sich lieber auf außereheliche Experimente.
Coppenfeld atmete erneut tief durch. Er war derjenige gewesen, der nach dem Studium am längsten gebraucht hatte, eine gute Anstellung zu finden. Dank der hervorragenden politischen Kontakte seines Vaters, der ein hohes Tier im Innenministerium gewesen war, hatte er am Ende aber natürlich doch noch Karriere gemacht. Er hatte mehrere hohe Ämter in verschiedenen Ministerien durchlaufen und in unterschiedlichen Projektgruppen des Bundesinnenministeriums mitgearbeitet. Vor drei Jahren schließlich kam die Krönung: die Ernennung zum Präsidenten des Verfassungsschutzes.
»Es wird einen Anschlag geben«, verkündete Coppenfeld mit einem Gesichtsausdruck, als würde morgen die Welt untergehen. Trotz der hohen Vertraulichkeit seines Amtes ließ sich Coppenfeld immer wieder – und das sogar sehr gerne – dazu verleiten, aus dem Nähkästchen zu plaudern.
»O Gott!« Berger spielte den Erschrockenen. In der Regel berichtete Coppenfeld über die schmutzigen Hintergründe von Rücktritten von wichtigen Politikern oder Managern. Das hatte immer einen gewissen Unterhaltungswert. Aber ein Anschlag? Es gab ständig Anschläge. Wenn er nicht gerade ihm oder einem Atomkraftwerk galt, war es keine Nachricht, um die man so ein Aufsehen machen musste.
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