»Schau!« Er zeigte wieder auf den Van, der nun tatsächlich in den kleinen Schotterweg eingebogen war, der zu ihrem Haus führte. »Der will doch zu uns!«
Lena holte zu ihrem Sohn auf. Gemeinsam beobachteten sie durch das Gebüsch hindurch den Wagen, der auf dem großen Hof vor der alten Scheune zu stehen kam. Kaum hatte er geparkt, wurden auch schon die Seitentüren aufgeschoben, und zwei schwarz gekleidete Männer verließen den Wagen.
Lena merkte, wie ihr plötzlich ganz anders wurde.
»Wer ist das?«, fragte Jean.
»Keine Ahnung«, sagte Lena, was auch der Wahrheit entsprach. Aber sie überkam eine üble Vorahnung. Alte Bilder stiegen in ihr auf. Die Geschichte vor sechs Jahren. Damals war sie aufgrund ihrer Forschung in eine gefährliche Politintrige geraten, bei der sie nur knapp mit heiler Haut davongekommen war. Die Verantwortlichen hatte man zur Rechenschaft gezogen, allerdings waren die Hintergründe nie an die Öffentlichkeit gelangt, geschweige denn vollständig verarbeitet worden. Bislang hatte sie sich damit sicher gefühlt. Doch sie wusste zu viel. War heute der Tag, an dem sie die Sache einholte?
»Komm, Mama!« Jean war bereits dabei, sich aus dem Gebüsch zu kämpfen.
»Nein. Warte!«, zischte sie ihm hinterher.
Er blieb stehen und schaute sie irritiert an. Der Ton in ihrer Stimme ließ ihn zum Glück gehorchen.
Lena ergriff ihr Fernglas. Sie legte es an die Augen und stellte es scharf. Die Männer gingen in Richtung Haus. Was sie schon meinte, ohne Fernglas erkannt zu haben, wurde zur Gewissheit: Beide Männer trugen Pistolengürtel.
Lena griff in ihre Jackentasche und zog ihr Handy heraus. Sie wählte Michaels Nummer. Kein Freizeichen. Sie nahm das Handy vom Ohr und prüfte die Netzqualität. Nicht ein Balken war zu sehen. Diese verdammte Gegend hier draußen!
»Mist!«, fluchte sie leise.
»Was?«
»Ach, nichts. Ich habe nur keinen Empfang.«
»Wen willst du anrufen?«
»Papa.«
»Wegen dem Wolf?«
Lena sah erneut durch das Fernglas. Leider war der Van so geparkt, dass sie von ihrer Position aus die Eingangstür ihres Hauses nicht mehr sehen konnte.
»Mama, ich will das mit dem Wolf …«
»Ich weiß«, unterbrach Lena ihren Sohn herrisch. »Später, Liebling, versprochen.« Sie wollte Jean nicht unnötig Angst einjagen. Sicherlich gab es für diesen »Besuch« eine ganz harmlose Erklärung.
Sie sah erneut auf ihr Handy, als würde der Empfang allein durch das Draufstarren besser werden. Dann überlegte sie, zu den Nachbarn zu gehen, den Tönnes, um Michael vom Festnetz aus anzurufen. Doch bis zum Hof der Tönnes waren es fast zwei Kilometer. Mit Jean auf dem Rücken brauchte sie dafür bestimmt zwanzig Minuten, wenn nicht länger.
Während sie weiter überlegte, was sie tun könnte, sah sie, wie die zwei Männer wieder zum Vorschein kamen und auf den Van zugingen. Lena beobachtete sie durch ihr Fernglas. Der eine öffnete die Seitentür, während der andere über das Feld blickte, als würde er etwas suchen. Zwei Spuren führten über die ansonsten unberührte Schneedecke. Die von Jean und ihre. Geradewegs auf sie zu.
»Bück dich!«, flüsterte Lena Jean zu, der zum Glück sofort gehorchte. Sie selbst ging ebenfalls in die Hocke.
Nun verließ der zweite Mann wieder den Wagen. Er hatte jetzt etwas in der Hand. Lena erhob sich leicht, um besser sehen zu können. Sie legte erneut die Objektive an die Augen.
»Scheiße«, rutschte es ihr heraus, während sie sich wieder zu Jean kniete. Sie hatte genau in die Linsen eines Fernglases gesehen, das auf sie gerichtet war.
»Sagt man nicht! Sagt man nicht!« Jean grinste.
Lena zog ihn hinter sich durch das Gebüsch in Richtung Wald.
»Ich will zu Papa!«, protestierte er.
»Später. Wir gehen erst noch zu den Tönnes.«
»Nein, Mama. Nicht zu den Tönnes. Ich hab Hunger.«
Lena blieb stehen. Sie beugte sich zu ihrem Sohn hinunter. »Jean, bitte, steig jetzt einfach in die Kraxe. Und dann lässt du Mama so schnell laufen, wie es geht. Ich erkläre dir alles später.«
»Wegen der Wölfe?«, fragte Jean.
Wie kam er nur darauf? Aber vielleicht gab er dann Ruhe. »Ja.«
Lena riss sich die Kraxe von den Schultern. Dann half sie ihm beim Einsteigen. Ein letztes Mal blickte sie zu ihrem Haus zurück. Jetzt standen beide Männer vor dem Van. Der mit dem Fernglas in der Hand zeigte genau in ihre Richtung.
»Willkommen zurück bei unserer Sendungsserie ›Countdown zur Wahl‹! Jeden Tag liefern wir Ihnen, liebe Zuhörer, einen Einblick in ein aktuelles Thema zu den bevorstehenden Neuwahlen des Bundestags. Heute haben wir ein hoch spannendes Interview für Sie zum Thema ›Die manipulierte Wahl‹, das wir gestern für Sie aufgezeichnet haben. Mit unserem Kollegen Arno Stange diskutierten der Politologe Professor Manfred Fender und der Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat der Partei ›Neue bürgerliche Mitte‹, Jan Berger.«
Das Interview vom Vortag. Berger drosselte die Geschwindigkeit seines Porsche und drehte das Volumen ein wenig auf. Dabei wäre es wahrscheinlich besser, das Radio einfach auszuschalten. Er hatte sich bereits den gesamten gestrigen Tag darüber geärgert, wie man versucht hatte, ihn vorzuführen.
»Herr Professor Fender, Herr Berger, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Seit der Corona-Krise vor fünf Jahren kommt dieses Land nicht mehr zur Ruhe. Zuletzt hat sich der Bundestag kurz nach der Wahl aufgrund von Streitigkeiten der Koalitionspartner wieder aufgelöst. In zwei Wochen sind Neuwahlen – Wahlen in nicht ganz einfachen Zeiten. Das zeigen auch die Umfragen. Fast fünfzig Prozent aller Wähler geben an, noch nicht zu wissen, wen sie wählen wollen. Unser heutiges Thema dazu: Wahlmanipulation. Wir haben es bereits in anderen Ländern erlebt und jetzt auch bei uns: Fremde Staaten mischen sich über die Wahlen in unsere Politik ein, indem sie unter anderem versuchen, über die sozialen Medien und gezielt gestreute Fake-News Parteien zu unterstützen, die ihren Interessen am dienlichsten sind. Derzeit werden die behaupteten Unterschlagungsvorwürfe diskutiert, die dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten seinen Posten und seine politische Karriere kosteten, die sich dann jedoch als falsch herausstellten. Daher die provokante Frage an Herrn Professor Fender: Leben wir überhaupt noch in einer Demokratie, in der das Volk seine Führung wählt, oder sind wir alle nur noch Puppen an fremdgesteuerten Schnüren?«
»Guten Tag zunächst einmal. Und nein, Ihre Frage ist überhaupt nicht provokant. Eine funktionierende Demokratie setzt voraus, dass sich die Wähler frei entscheiden können. Das Grundgesetz garantiert deshalb die freien Wahlen. Ein manipulierter Wähler ist eindeutig kein freier Wähler.«
»Womit wir beim Problem wären. Die sozialen Medien machen es möglich. Und das wissen wir nicht erst seit gestern. Vor vielen Jahren gab es bereits die Einmischung von Russland in die Wahlen der USA. Weniger bekannt sind die politischen Manipulationen vieler Dritte-Welt-Staaten durch große Industrienationen. Und jetzt sind wir dran?«
»Na ja. Lassen Sie uns fair bleiben: Wahlbeeinflussungen gibt es, seitdem es Wahlen gibt. Viel diskutiert wurden im letzten Jahrhundert sogenannte Hirtensprüche. Das waren Wahlempfehlungen des lokalen Geistlichen. Und in Italien hat man sich über die Mafia immer wieder Stimmen gekauft.«
»Also alles nichts Neues, sagen Sie?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte nur klarstellen, dass es Wahlbeeinflussung schon immer gegeben hat. Was in diesem Ausmaß allerdings wirklich neu ist, ist die manipulative Beeinflussung von außen, also durch andere Staaten, vor allem auch durch Fake-News und manipulierte Inhalte in den sozialen Medien.«
»Also doch! Wie können wir uns dagegen schützen?«
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