»Eine schwierige Frage, auf die ich Ihnen leider keine befriedigende Antwort geben kann. Das Problem ist, dass man die Beeinflussungsmöglichkeiten, die uns das digitale Zeitalter bietet, zu lange nicht ernst genug genommen hat. Die systematische Hetze über das Netz, oft mit perfider technischer Hilfe von Bots aus dem In- und Ausland, ist eine große Gefahr. Hätte man schon vor Jahren mit gesetzlichen und technischen Anpassungen experimentiert, dann wären wir hier sicherlich weiter.«
»Vielleicht genau der Punkt, um zu Ihnen zu kommen, Herr Berger. Selten hat es eine Partei in so kurzer Zeit geschafft, so viele Stimmen zu vereinen. In der ersten Bundestagswahl nach der Corona-Krise schoss Ihre Partei von null auf fünfzehn Prozent. Den neuesten Umfragen zufolge wäre jetzt mit viel Glück sogar eine absolute Mehrheit im Parlament möglich. Doch Ihre reißerische Wahlkampfkampagne in den sozialen Medien steht in der Kritik. Zulässige Wahlwerbung oder schon Manipulation?«
»Guten Tag auch von meiner Seite. Und ich muss sofort klarstellen: Unsere Kampagne zu verdächtigen, manipulativ zu sein, ist natürlich an den Haaren herbeigezogen. Wir kommunizieren einfach, knapp und gut verständlich. Das ist keine Manipulation, sondern unsere Fähigkeit, die Sprache der Bürger zu sprechen, anstatt sie von oben herab mit leeren oder unverständlichen Floskeln abzuspeisen.«
Jetzt, wo er das Interview noch einmal hörte, ärgerte sich Berger über den Vorwurf fast noch mehr. Warum wurde ihre Kommunikationsstrategie immer wieder angefeindet? Die Medien arbeiteten größtenteils ganz ähnlich. Denn wie hatte noch der Philosoph Karl Popper gesagt: »Was man nicht versteht, ist nicht.« Nicht erst seit heute musste man auf dem Niveau von Castingshows kommunizieren, um die Massen zu begeistern. »Sorry, deine Stimme ist scheiße. Aber du siehst geil aus. Und deine Story hat mich echt berührt. Daher willkommen im Recall.« Dass das die anderen Parteien nur sehr begrenzt begriffen hatten, war nicht sein Problem.
Zudem verdankten sie ihren Erfolg nicht allein ihrer Kommunikationsstrategie. Sie waren schlicht und einfach die einzige Partei, die mit einem Programm aufwarten konnte, das für den in Deutschland dringend notwendigen Wandel stand. Von der Wirtschaft wurden sie für ihre liberalen Standpunkte und Vorschläge zur Deregulierung immer nur gelobt. Die Idee, Europa in einen Norden und einen Süden zu zerschlagen, kam ebenfalls gut an, genauso wie auch ihre fundamentale Kritik an der Politik des offenen Geldhahns; Geld, das größtenteils in den korrupten Süden von Europa floss und dort in den durstigen Kehlen von Politikern und Lobbyisten versickerte.
»Es wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie sehr populistisch unterwegs sind und es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Auch der Vorschlag einer sogenannten Kanzlerdemokratie wird sehr kritisch gesehen. Diesbezüglich wurden Sie in letzter Zeit sogar als ›moderner Möchtegerndiktator‹ bezeichnet.«
»Zunächst zum Punkt, dass wir es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen: Ich weiß, dass sich die Medien hier gerne die alleinige Deutungshoheit zuschreiben. Aber nicht mit uns. Und zum ›Möchtegerndiktator‹ – ich möchte Sie doch bitten, solche Vergleiche in Zukunft zu unterlassen. Eine Kanzlerdemokratie, wie wir sie fordern, ist keine Diktatur. Sie ist schlicht und einfach eine Weiterentwicklung unseres derzeitigen demokratischen Systems. Letztlich ist sie nichts anderes als eine Umsetzung von Führungsprinzipien, nach denen Demokratie schon in vielen Ländern gelebt wird.«
»Auch wenn wir jetzt ein wenig vom Thema abkommen, möchte ich doch kurz darauf eingehen. Sie wollen demokratische Gremien außer Kraft setzen, die gerichtliche Überprüfbarkeit von staatlichen Entscheidungen reduzieren und viele Mitspracherechte des Parlaments einschränken. Sie wollen insbesondere auch ein erweitertes Durchgriffsrecht des Kanzlers nicht nur im Kriegsfall. Das mag so manch einen von uns an ein sehr dunkles Kapitel in der deutschen Geschichte erinnern.«
»Jetzt hören Sie doch bitte mit diesen Vergleichen auf! Sie machen sich ja lächerlich! Lassen Sie uns einfach bei den Fakten bleiben. Demokratische Prozesse sind gut und richtig. Ich liebe Diskussionen. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da müssen Entscheidungen gefällt und konsequent umgesetzt werden. Wenn ein Virus die Welt im Griff hat, dann ist das plötzlich möglich. Das haben wir aus der Corona-Krise gelernt. Doch anschließend sind alle Parteien – außer uns – wieder in ihren Dornröschenschlaf gefallen. Es kann nicht sein, dass wir den durch moderne Technologien geschaffenen Fortschritt, vor allem auch bezüglich einer schnelleren Umsetzbarkeit von Dingen, durch unsere politischen Prozesse immer wieder auf ein mittelalterliches Niveau zurücksetzen. Vor allem können wir uns das im internationalen Umfeld nicht mehr leisten. Ich möchte hier nicht wieder die vielen Beispiele bemühen, wie viele Autobahnen, Bahnhöfe, Krankenhäuser und Flughäfen die Chinesen bauen, während wir gerade den nächsten Gerichtsprozess abwarten oder über den Brandschutz diskutieren. Lassen Sie uns ehrlich sein: Europa ist vergleichbar mit dem Römischen Reich. Selbst träumenden Nostalgikern muss klar sein, wo das alles endet: Wir werden von China überrannt. Und über unsere Arbeits- und Lebensbedingungen werden dann andere entscheiden. Wenn Ihnen das lieber ist – keiner zwingt Sie, mich zu wählen. Aber ich und meine Partei werden das niemals akzeptieren.«
»Aber Herr Berger …«
»Ich bin Demokrat, aus vollem Herzen. Ich liebe unser Land, unsere Werte. Waren die Kanzler und Politiker vor mir, die mit harter Hand regiert und dadurch einiges erreicht haben, Nazis oder Diktatoren? Natürlich nicht. Und was haben die Parteien erreicht, die versucht haben, politische Probleme basisdemokratisch mit Tausenden von Abstimmungsrunden und Diskussionen zu lösen? Manche von ihnen gibt es nicht mal mehr!«
»Demokratie braucht manchmal Zeit. Glauben Sie nicht, dass man die ein oder andere Diskussion benötigt, um sich einem Thema anzunähern?«
»Diskussion? Ja! Endlose Debatten? Ein entschiedenes Nein! Und wissen Sie, warum? Weil das, worauf man sich dann einigt, nicht mehr aktuell ist. Die Zeiten haben sich geändert. Wir sitzen nicht mehr auf einer Kutsche, sondern im Überschallflieger. ›Fail fast‹ heißt es in der Wirtschaft. Und das bedeutet, lieber schnell eine falsche Entscheidung treffen und aus ihr lernen als langsam eine richtige, die dann für den Markt nicht mehr relevant ist. Ich bin für eine Fehlerkultur in den Behörden, nicht eine Kultur, deren Hauptanliegen es ist, ja nicht den eigenen Beamtenstatus zu gefährden. Und wie ich schon sagte: Ich liebe Deutschland. Und ich glaube, wir können auf dieser Welt einiges bewirken … wenn wir wollen.«
Berger schaltete das Radio aus. Den Rest dieses höchst tendenziösen Interviews, in dem fast nur noch dieser alberne Professor zu Wort gekommen war, würde er sich nicht erneut antun. Zudem hatte er das Anwesen der Coppenfelds fast erreicht. Hinter ein paar Bäumen sah man es bereits durchblitzen, das kleine Schloss seines Studienfreundes. Nur noch die Kiesauffahrt, dann wäre er da.
Lena wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie keuchte, als hätte sie gerade einen Marathon hinter sich. Ihre Beine und ihr Rücken schmerzten. Vielleicht noch hundert Meter Wald, dann der brache, schneebedeckte Acker, und dann wären sie endlich bei den Tönnes.
Jean saß brav in seiner Kraxe und sagte kein Wort. Kinder können einen in den unmöglichsten Situationen in den Wahnsinn treiben, doch sie spüren auch, wenn es wirklich ernst wird.
Lena drehte sich um und lauschte. Kein lautes Rufen, keine knackenden Äste. Wenn die Männer sie überhaupt verfolgt hatten, mussten sie noch ein ganzes Stück hinter ihnen sein. Sie setzte ihren Weg in leicht reduziertem Tempo fort.
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