Der eine schaute jetzt über die Straße zu ihr hinüber.
Lächelt der, weil ich hübsch bin, oder verzieht er das Gesicht, weil ihm eben was eingefallen ist, weil er eine Ähnlichkeit feststellt? Und steht da nicht ein VW Käfer vor ihm, in dem einer in Zivil sitzt? Polente oder nicht Polente? Schwer zu sagen, aber der hat das Fenster heruntergekurbelt. Brauchen wir überhaupt schon wieder Kaffee oder gehe ich jetzt einfach mal in die andere Richtung, mache einen kleinen Bogen? Was ist schon gegen einen Spaziergang einzuwenden? Soll doch gesund sein. Tausend Schritte, zweitausend Schritte, dreitausend Schritte …
Als Kind hatte sie mal bis vier Billionen gezählt, aber da war sie natürlich durcheinandergekommen und hatte einige Zahlen übersprungen. Sie waren tagelang zu Fuß unterwegs gewesen damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Und ihre Mutter hatte sie unbarmherzig angetrieben. Wovor sie weggelaufen waren, hatte sie zuerst nicht verstanden. Später dann leider schon. Wäre doch nur der Vater mitgekommen, der hätte sie beschützt und getragen, jedenfalls in der Nacht, da hätte sie auf seinen Schultern schlafen können …
Sie bog in die Industriestraße ein. Gott ja, mach einen Schlenker, mach einen Bogen. Verdammter Wind! Blöder Regen! Die dämlichen Udels, wie man sie hier nannte, konnten einem das Leben schon schwer machen. Aber mal im Ernst: Du bist doch selbst schuld! Wieso lässt du dich ins Bockshorn jagen? Wirklich, du bist zu dumm manchmal.
Sie erreichte den Kanal. Den geh ich jetzt einfach mal ein Stückchen entlang, bis mein Herz nicht mehr so heftig schlägt. „Heute wollen wir marschieren!“ Mist, warum kommt mir denn ausgerechnet dieses Lied in den Sinn? Nimm lieber ein anderes. „Aus grauer Städte Mauern …“ Aber das passt nicht zu dir. Dann schon eher dieses: „Dreh dich nicht um, nach fremden Schatten …“
Jetzt musste sie doch über sich lachen. Sie blieb stehen und schaute auf den Veringkanal. Das Wasser stand bis zur Oberkante. Aber Wasser gehört nun mal zum Hafen, nicht? Sie ging weiter. An einer Stelle gurgelte ein Rinnsal über den Weg. Mit großen Schritten setzte sie darüber hinweg. Der Wind blies sein Konzert, die kahlen Äste dirigierten.
Sie bog ab, ging einen Umweg, erreichte doch noch die Fährstraße und kaufte den Kaffee. „Bitte gemahlen für den Melitta-Filter.“ Im Laden redeten sie auch über den Sturm, und ob die Deiche wohl halten würden. Ein Mann erging sich in Berechnungen bezüglich der Tide und behauptete, das Wasser würde jetzt erst mal ganz ordentlich zurückgehen, wie es sich gehörte, denn das sei ein Naturgesetz.
Betty ging über den Vogelhüttendeich zurück, eigentlich der direkte Weg, aber dann wurde sie doch neugierig und lief bis zum Ernst-August-Kanal. Auch hier stand das Wasser bis zur Oberkante. Ihr Mantel flatterte, das Kopftuch wurde beinahe fortgeweht, ihre Gedanken flogen davon. Und da wurde ihr klar, warum sie die ganze Zeit ohne Sinn und Verstand in der Gegend herumlief: Sie war nervös. Sie hatte Lampenfieber. Mensch, das ist doch klar! Heute gilt’s! Du hast lange genug gewartet! Willst du etwa in dieser tristen Gegend versauern? Die Gelegenheit ist günstig. Heut vollende ich’s. Auf jeden Fall. Es gibt kein Zurück mehr! Es muss etwas geschehen.
Ein Gefühl der Vorfreude durchzuckte sie. Ein leichter Stromschlag, ein anhaltendes Kribbeln. Eine Wärme breitete sich in ihrer Brust aus, im Bauch, strömte in Arme und Beine, in den Kopf. Und sagen wir es ehrlich: Wenn es keinen Spaß machte, würdest du es doch nicht tun, oder?
Sie ging weiter und achtete peinlich genau darauf, dass der Wind ihre Milchkanne nicht in eine ungünstige Schieflage brachte. Das fehlt noch, dass der Alte sich aufregt, weil ich ein paar Tropfen vergossen habe!
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