ROBERT BRACK
EIN STURMFLUT-THRILLER
Gebt mir nur einen Teufel auf einmal, so fecht ich ihre Legionen durch! Shakespeare, Der Sturm
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Die Personen
Der Autor
Betty stand unter der knorrigen Weide am Vogelhüttendeich in Wilhelmsburg und schaute über den Ernst-August-Kanal. Um sie herum rauschte es. Der Wind zerrte an Kleid und Mantel, wollte ihr das Tuch vom Kopf reißen. Und warum auch nicht? Sie zog es ab und ließ die kastanienbraunen Locken im kalten Wind flattern.
Aber das Rauschen kam nicht vom Wind, der durch die Bäume am Kanalufer fegte, die hängenden Zweige der Trauerweiden zum Flattern brachte und über die Wasseroberfläche peitschte, dass es spritzte. Das Rauschen hatte nichts mit dem Baum und seinen Ästen zu tun, denn der hatte keine Blätter, es war Winter, Mitte Februar. Nein, das Rauschen hing in der Luft. Überall. Seit Tagen schon. Es war allgegenwärtig und wollte nicht aufhören. Ihrem Gefühl nach lag es über der ganzen Stadt, über dem ganzen Land, über der ganzen Welt. Vom Wind gemacht, der unsichtbare Saiten in der Luft zum Klingen brachte und eine tosende Musik erzeugte. Eine Sturmsinfonie. Nicht gerade harmonisch, aber bombastisch. Ein vielstimmiges dröhnendes Brausen.
Das Großartige daran war: Man konnte diese Musik nicht nur hören, sondern sogar spüren. Es war ein handfester Missklang, der sie packte und schüttelte, der an ihr riss und zerrte, der sich ihr entgegenschleuderte und versuchte, sie umzuwerfen, hochzuheben, fortzuwehen. „Wo der Wind mich hingetragen“, dachte Betty, „ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“
Sie drehte sich um, wandte sich ab von den kleinen Hütten, die hinter ihr geduckt in einer Kuhle lagen, schaute über den Kanal in die Ferne, in jene Richtung, in die der Wind sie zu drängen versuchte. Aber nach Osten? Wieder nach Osten? Niemals!
„Du kannst mich in den Kanal werfen, du brüllendes Ungeheuer“, dachte Betty, „aber du wirst mich niemals wieder in den Osten schaffen, nicht dorthin. Nicht auf diese blutgetränkte Erde. Ich habe der Erde dort zu viel Blut gespendet!“
Und jetzt schrie sie es: „Niemals! Niemals, ihr verfluchten Dreckschweine, ihr Hundesöhne, ihr Mistkerle! Niemals werdet ihr mich wieder treten, mich in den Schmutz werfen und mich quälen. Nein! Nein! Nein!“
Der Sturm schluckte ihre Schreie, als hätte ihr Mund lautlose Worte geformt. Wie oft hatte sie diese Beschimpfungen heimlich geflüstert, nachts unter der Bettdecke? Aber heute ganz laut! Ach, wie tut es gut, alles herausschreien zu können, es wegzuschreien. Der Welt die eigene Wut entgegenzuschleudern, ohne dass es falsche Ohren hören. Die richtigen Ohren, das sind die Ohren der Natur. Die falschen, das sind die Ohren der Menschen. Mit der Natur kann man nicht einfach kurzen Prozess machen, mit den Menschen schon. Ja, so ist das. Trau dich, Betty! Die Zeit des Großreinemachens ist gekommen, des rücksichtslosen Aufräumens. Sei ein Sturm, Betty, fahre hinein in das Dasein dieser Elenden und fege sie hinweg mit harter Hand. Zack!
Sie lachte. Schüttelte sich. Mehr noch als der Sturm wurde sie von der in ihrer Brust aufwallenden Freude geschüttelt. Sie krümmte sich vor Lachen, richtete sich wieder auf und breitete die Arme aus, um sich dem Wind zu ergeben. Und wirkte mit ihren flatternden Haaren und dem weit geöffneten Mund wie eine rachsüchtige Medusa.
Klatsch, traf sie ein Peitschenhieb am Hinterkopf. Das hast du nun davon, du dummes Mädchen! Die Weide trauert nicht, sie schlägt zurück. Der Wind beansprucht die Vorherrschaft. Du bist kein Sturm, kein Orkan, du bist nur ein kleiner Mensch.
Ach was! Besser du wirst vom Wind gepeitscht als von einem Folterknecht.
Betty drehte sich um und stapfte in ihren Gummistiefeln durch den Morast der Gartenkolonie zurück zu ihrer Bude.
Der Junge stemmte sich gegen den Wind. Lag schräg darauf wie auf einem Luftkissen, das verhinderte, dass er auf die Schnauze fiel. Alberner Kerl, dachte Rinke, während eine vorbeifahrende Straßenbahn ihm die Sicht nahm. Dann war der Bursche wieder zu sehen. Gleiche Haltung, immer noch schräg und mit ausdrucksloser Miene.
Auch wenn er nicht so grotesk schief gelegen hätte, sah er in Rinkes Augen lächerlich aus. Und er war zu jung. Trug Blue Jeans und eine Lederjacke, Tolle mit Entenschwanz, Rollkragenpullover und – immerhin – Wildlederschuhe mit Kreppsohlen. Ein Leisetreter im Stil der Halbstarken, die Rock’n’Roll hörten, der seit einiger Zeit auch auf dem Kiez Furore machte. Die Stern-Lichtspiele in der Großen Freiheit wurden gerade zu einem Musikklub umgebaut. Damit noch mehr Lärm produziert werden konnte. Wirklich gute Musik wurde systematisch abgeschafft. Ein Trauerspiel, wie Rinke fand, aber er war in dieser Hinsicht auch sehr altmodisch.
Dabei war Rinke erst siebenundzwanzig Jahre alt. Er trug einen schwarzen Trenchcoat, eine Schiebermütze und ebenfalls Wildlederschuhe mit Kreppsohlen. Auch er war ein Leisetreter, aus gutem Grund. Dass er altmodisch war, lag vielleicht daran, dass er einen nicht unerheblichen Teil seines noch jungen Lebens hinter Gittern verbracht hatte, wodurch seine Verbindung zum Alltag immer wieder unterbrochen worden war.
Eine Windböe attackierte seine Mütze. Rinke zog sie noch tiefer ins Gesicht, stellte den Mantelkragen hoch und überquerte die Reeperbahn. Ein VW Käfer hupte ihn frech an, ein vorbeifahrender Opel Kapitän spritzte Wasser gegen seine Hosenbeine. Die Straßenbahn klingelte.
Rinke ließ sich nicht beirren, ging schnurstracks auf den Jungen zu, der an der Ecke zur Talstraße im Wind herumalberte. Wenn der mir jetzt komisch kommt, kriegt er einen Tritt in den Arsch und tschüs, nahm er sich vor.
Der Junge sah ihn kommen und erkannte sofort, dass dies seine Verabredung war. Er stellte sich gerade hin, stramm und ordentlich, als wollte er bei der Bundeswehr anheuern. Ich weiß ja nicht, dachte Rinke, der ist doch noch feucht hinter den Ohren. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Wenn dein Kumpel plötzlich und unerwartet aus dem Verkehr gezogen wird, brauchst du einen Ersatzmann. Und wenn die Zeit drängt, nimmst du fast jeden. Na, schauen wir ihn uns mal an.
Er blieb vor ihm stehen und tippte sich an die Mütze.
„Tach.“
„Tach auch“, nickte der Junge und fuhr sich mit beiden Händen über die Frisur, als fürchtete er, sie könnte in Unordnung geraten sein. Dabei war sie mit einem halben Pfund Pomade beschwert. Fehlte nur noch, dass er einen Kamm aus der Gesäßtasche zog, um sich zu frisieren.
„Und sonst?“
„Würd gern ‘ne Zigarette rauchen, dick und rund.“
Rinke nickte, zog eine Packung „Juno“ aus der Manteltasche und bot dem Jungen eine an. Der griff zu. Rinke gab ihm Feuer, was gar nicht so einfach war bei dem Wind. Sie mussten dazu ganz dicht an das Eckhaus treten.
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