Die Wellen schlugen manchmal so hoch, dass Rinke Angst hatte, das Wasser könnte über den Rand der Gummistiefel schwappen.
Am Fischereihafen lag ein Hochseefangschiff, drei Kutter waren zu sehen. Jedes Mal, wenn er hierher kam, waren es weniger Schiffe. Angeblich sollte es darauf hinauslaufen, dass die Fische in Zukunft nur noch mit Lastwagen angeliefert wurden. Rinke fand das verrückt. Wo sie doch vor ein paar Jahren erst die Gebäudereihe mit den hübschen zweistöckigen Buden für die Großhändler fertiggestellt hatten.
Er ging die Rampe entlang. Laster waren keine zu sehen, die hatte man wohl vorsorglich vor dem Hochwasser in Sicherheit gebracht. Die Geschäfte waren jetzt am Nachmittag schon lange geschlossen.
Zu seinem Leidwesen musste Rinke wieder von der Rampe runter ins Wasser. Vorbei an der Köhlbrandtreppe, die den Hang hinaufführte. Die hätte er mal nehmen sollen, wäre weniger mühsam gewesen. Über dem windschiefen Fachwerkgebäude, das er ansteuerte, stand in verblichenen Buchstaben auf einem Blechschild: „Theodor Hammer – Technische Ausstattungen“. Die Firma hatte es nie gegeben. Das Gebäude diente schon seit Jahrzehnten einem findigen Geschäftsmann als Stützpunkt. Es war so dicht an den Elbhang gebaut worden, dass man vor langer Zeit einmal einen Tunnel gegraben hatte, der durch den Berg hinauf nach Altona in die Kanalisation führte. Kein Schellfischtunnel, der befand sich weiter westlich, nein, ein Schmugglertunnel. Von dessen Existenz wussten nur wenige, aber auf ihm basierte seit knapp drei Jahrzehnten das Geschäftsmodell von Dimitrios Felten. Nicht dass er schmuggelte, nein, er lagerte. Zollfrei, steuerfrei und frei vom Zugriff der Polizei, die nichts von dem Tunnel wusste, der Felten als Lagerraum und Umschlagplatz für kleine und große Kostbarkeiten diente, die überraschend ihren Besitzer gewechselt hatten.
Felten war hoch angesehen bei allen Individuen, denen der Slogan „Eigentum ist Diebstahl“ ein Ansporn war. Also auch bei Lucius Rinke, dessen Vater schon mit Felten kooperiert hatte.
Das Haus lag leicht erhöht am Hang und hatte ein Hochparterre. Auf diese Weise war es meist vor dem Hochwasser geschützt. Diesmal aber leckten die Fluten schon an der fünfstufigen Treppe, die zur Eingangstür führte. Darüber ein Balkon. Von einem Balken hing eine Glocke. Rinke machte sich den Spaß, damit zu läuten, anstatt die elektrische Klingel zu benutzen.
Die Tür ging auf und ein rundlicher kleiner Mann in einem weiten schwarzen Anzug, weißem Hemd, Hosenträgern mit Ankermuster und fliederfarbener Krawatte, breitem Mund und platter Nase schaute ihn grimmig an. Er musste ungefähr siebzig Jahre alt sein.
„Das hat dein Vater, der Spaßvogel, auch immer so gemacht“, sagte er zur Begrüßung.
„Ich weiß.“
„Beim ersten Mal ist es noch witzig, beim zweiten Mal eine Reminiszenz, aber ab dem dritten Mal …“
„… wird es Tradition“, fiel Rinke ihm ins Wort.
„Na, komm rein, meine Junge.“
Der kleine, dicke Mann umarmte seinen Besucher linkisch und führte ihn in den „Salon“, der aussah, als wäre er aus einem Ozeandampfer der Jahrhundertwende hierher versetzt worden. Dimitrios Felten hatte die Einrichtung über die Jahre hinweg vervollkommnet. Es war alles da, was man sich auf hoher See an Luxus vorstellen konnte. Tropenholz, wohin man schaute. Zur Ausstattung gehörten unter anderem ein Esstisch, ein Spieltisch, eine Sesselgarnitur, Bücherschränke, ein Billardtisch, eine kleine Bar, Lampen und Lüster, alle mit grünen Schirmen versehen, diverse maritime Geräte, angefangen beim Barometer bis hin zum Stehkompass, eine Garderobe und ein Sofa, auf dem eine schläfrige Siamkatze lag und den Eintretenden misstrauisch anblickte.
Felten bot seinem Besucher einen Whisky von der Insel Islay an, den Rinke gern annahm.
Während sein Gastgeber die Gläser füllte, wechselte Rinke das Schuhwerk und packte die Gummistiefel wieder in die Sporttasche. Die Siamkatze verfolgte jede seiner Bewegungen.
Sie nahmen auf der Sesselgarnitur Platz. Zwischen ihnen stand ein Nierentisch mit einem braun-rot-schwarzen Muster aus Bakelit-Quadraten und -Rechtecken. Auf den Whiskygläsern prangte der rot-weiße, dynamische Schriftzug der „BEA“. Feltens Tochter arbeitete als Stewardess bei der britischen Fluggesellschaft. Die Tumbler hatte sie ganz legal entwendet.
Felten hob sein Glas: „Freut mich, dass du wieder unter den Lebenden weilst.“
„Danke. War ein bisschen lang dieses Mal. Dreizehn Monate. Ich dachte schon, ich setze Patina an.“
„Oder wirst mumifiziert.“ Felten lächelte freundlich.
„Das Problem da drin ist, dass sie sich weigern, einem vernünftige Lektüre zu besorgen. Die Gefängnisbibliothek taugt nichts. Aber keiner erlaubt dir, mal in die Öffentlichen Bücherhallen zu gehen oder dort zu bestellen.“
„Was fehlte denn in der Knastbibliothek?“
„Balzac. Menschliche Komödie.“
„Ziemlich umfangreich. Hättest du was gesagt …“
„Kein Kontakt im Brandfall hast du gesagt.“
„Na ja, über drei, vier Ecken wär’s vielleicht gegangen.“
„Das nächste Mal …“
„Wieso ausgerechnet Balzac?“, fragte Felten.
„Es gibt da in diversen Romanen eine Figur, die mich interessiert.“
„Jacques Collin.“
Rinke fühlte sich ertappt. „Stimmt.“
„Weil er dich an deinen Vater erinnert. Ein echter Berufsverbrecher. Ich habe immer bewundert, dass er trotz fehlender bürgerlicher Fassade nie erwischt wurde. Na ja, fast nie.“
„Er liebte den Untergrund.“
„Wie deine Mutter. Ihr seid eine echte Maulwurffamilie.“ Felten nippte an seinem Whisky.
„Meine Mutter war keine Verbrecherin. Sie war im Widerstand.“
„Im politischen. Nicht im kriminellen so wie ich.“ Felten lachte.
„Ja, sie hat gegen die Faschisten gekämpft, macht sie immer noch. Jetzt wieder mit der Schreibmaschine.“
„Artikel für die Deutsche Volkszeitung zu schreiben, gilt hierzulande beinahe schon als Verbrechen.“
„Du übertreibst.“
„Nur ein bisschen. Freut mich, dass deine Mutter sich nicht unterkriegen lässt.“
„Ja“, sagte Rinke leise und starrte vor sich hin.
„Und du?“
Rinke nahm einen Schluck Whisky und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
„Was bleibt uns denn übrig?“, ereiferte sich Felten. Er breitete die Arme aus: „Die Welt ist ein Schlaraffenland, aber die gebratenen Tauben landen immer in den Mäulern der anderen. Also ist Selbsthilfe gefragt.“
Rinke ließ den Whisky im Glas kreisen. „Ich denke immer mal drüber nach.“
„Über was?“
„Was das soll … Ich meine, einerseits kannst du nicht mitmachen in diesem verlogenen Spiel, in dem die angeblich Gesetzestreuen sich gegenseitig abzocken. Andererseits wird das, was ich mache, immer riskanter. Das nächste Mal brummen die mir fünf Jahre auf. Dann ist es aus mit mir.“
„Lass dich nicht erwischen, Lou!“
„Ja, genau …“ Der Bernsteinglanz des Whiskys machte Rinke melancholisch. „Nach dem nächsten Ding hau ich ab. Endgültig.“
„Ach … Wohin denn?“
Rinke zögerte. „Na ja … also, ich sage immer Marbella. Weil das alle sagen, die wegmüssen.“
„Spanien liefert nicht aus. Ist aber eine faschistische Diktatur.“
„Ja, eben. In Wahrheit will ich woandershin. Karibik.“
„So, so. Wegen der Musik?“
„Musik und Politik.“
„Ah, Kuba!“
„Vielleicht.“ Rinke starrte träumerisch ins Nichts. „Ich bin doch ein halber Spanier … zwei Jahre Katalonien, dann das Exil in Mexiko. Das Hispanische liegt mir vielleicht nicht im Blut, aber in der Seele.“
„Wenn du lieber Rum trinken willst …“ Felten deutete zur Bar.
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