Melanies Mundwinkel zuckten. »Weil ich nicht von hier bin. Das haben Sie schon erwähnt, als wir uns das erste Mal auf dem Bauernhof getroffen haben. Und Ihre Cousine jetzt wieder. Es scheint hier etwas sehr Ungewöhnliches zu sein.«
»Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, ist das hier ein Dorf. Auch wenn es sich große Kreisstadt nennt.« Jana konnte auch ihre Mundwinkel nicht von einer ähnlichen Bewegung wie bei denen von Melanie abhalten. »Es kommen in der Saison eine ganze Menge Touristen hierher, aber die Leute, die ständig hier wohnen, sind nicht so viele. Wir kennen uns alle. Und jeder, der nur für kurze Zeit hierherkommt, ist ein Fremder.«
Ein nachdenkliches Nicken ließ Melanies Kopf etwas auf und ab wippen. »Ich muss aber ein paar Leute befragen. Denken Sie denn, die werden überhaupt mit mir reden? Wo ich ihnen so fremd bin?«
Jana überlegte kurz und schürzte dabei ihre Lippen. »Wie gesagt, wir sind hier Touristen gewöhnt«, meinte sie mit gerunzelter Stirn. »Aber die führen normalerweise natürlich keine Befragungen durch.«
Fast etwas amüsiert lachte Melanie auf. »Das ist nicht gerade eine direkte Antwort.«
»Eine bessere kann ich Ihnen nicht geben.« Ebenfalls leicht amüsiert schüttelte Jana den Kopf. »Ich stecke auch nicht in meinen Nachbarn drin.«
»Sie würden nicht vielleicht . . .« Melanie brach ab und räusperte sich. »Sie können sich nicht vielleicht vorstellen, mir bei den Befragungen zu helfen? Sie sind von hier und wahrscheinlich mit dem halben Dorf verwandt. Sie sind keine Fremde. Da werden die Leute vielleicht offener.«
Das war für Jana eine etwas überraschende Bitte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und sie wusste nicht sofort, was sie darauf antworten sollte. »Ähm . . . Ich arbeite den ganzen Tag«, erwiderte sie zögernd.
Gleichzeitig raste so etwas wie ein Hochgeschwindigkeitszug durch ihre Brust. Was hatte diese Bitte von Melanie zu bedeuten? Ging es ihr nur um die Arbeit, oder ging es ihr darum, mehr Zeit mit Jana zu verbringen? Jana jagte allein die Vorstellung, dass sie dann vielleicht stundenlang mit Melanie zusammen sein würde, heiße Schauer den Rücken hinunter.
»Entschuldigung.« Melanie hob die Hände und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Das ist zu viel verlangt. Ich möchte hier nur so schnell wie möglich fertig werden.« Sie warf kurz einen Blick zum Stammtisch hinüber, an dem die Honoratioren der Stadt saßen und ihre Maßkrüge leerten. »Wie Sie schon selbst festgestellt haben, ist das hier nicht ganz meine Welt.«
Wir sind ihr nicht gut genug, dachte Jana. Sie hält uns alle für Dorfdeppen, mich wahrscheinlich eingeschlossen. Ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. »Nein, das ist sie wohl nicht«, stimmte sie kühl zu.
Die heißen Schauer verflüchtigten sich.
Diese eingebildete Stadtpomeranze hatte nicht das geringste Interesse an ihr.
Das hatte sie sich nur eingebildet.
Da stand sie nun und wartete auf Jana.
Melanie kam sich fast wieder vor wie in der Schule. Schon gestern Abend war das so gewesen, als sie Jana darum gebeten hatte, sie bei diesen Befragungen zu begleiten. Wie eine fast errötende sechzehnjährige Melanie auf dem Schulhof.
Sie war nicht errötet. Gestern Abend nicht und früher auf dem Schulhof nicht. Aber es kam ihr so vor. Jana verursachte eine Unsicherheit in ihr, wie sie sie schon lange nicht mehr gekannt hatte.
Was war das nur mit dieser Frau? Sie war noch sehr jung, auf jeden Fall einige Jahre jünger als Melanie, aber manchmal kam sie ihr so vor, als wäre sie eines dieser uralten ewigen Orakel, von denen in der griechischen Mythologie stets die Rede war.
Warum das so war, konnte Melanie sich nicht so richtig erklären. Jana wirkte wie ein offenes Buch, eine junge Frau vom Dorf, die noch nicht viel erlebt hatte, die noch nie weggewesen war. Sie war hier verwurzelt und schien sich damit auch ganz wohlzufühlen.
Auf der anderen Seite hatte Melanie bei dem Gespräch, das sie gestern dann noch in der Gaststube geführt hatten, das Gefühl gehabt, Jana beobachtete sie ständig. Es war, als ob sie etwas von Melanie erwartete, das sie ihr nicht sagen konnte. Oder wollte.
Melanie bildete sich nicht ein, eine große Frauenversteherin zu sein. Das war sie noch nie gewesen. Eher im Gegenteil. Sie verstand die Frauen überhaupt nicht. Keine von denen, mit denen sie je näher zu tun gehabt hatte.
Dennoch machte sie sich Gedanken über Jana, wie sie sie sich zuvor noch nie über eine Frau gemacht hatte. Denn sie fragte sich, was Jana wirklich dachte. War es das, was sie sagte? Den Eindruck hatte Melanie nicht.
Aber vielleicht war das auch nur ihre vierjährige Erfahrung als Versicherungsdetektivin, die ihr dieses Misstrauen eingab. Sie traute keinem Menschen mehr so richtig. Wenn es um Versicherungsbetrug ging, logen alle.
Das hatte eigentlich nichts mit ihrem Privatleben zu tun, aber es strahlte darauf aus. Früher hatte sie sich nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, ob jemand die Absicht hatte, sie zu betrügen. Ob jemand sie belog. Mittlerweile gehörte das auch privat bei ihr fast zum Standard.
Das war ungerecht, das wusste sie selbst. Sie konnte ihren Instinkten vertrauen, was Betrüger anging, denn sie hatte mittlerweile schon eine Menge davon kennengelernt. Und eines hatten sie alle gemeinsam: Sie konnten einem nicht richtig in die Augen schauen.
Jana schaute ihr fast immer in die Augen. Lügen schien nicht zu ihrem Repertoire zu gehören. Aber konnte man da je sicher sein? In dieser ländlichen Umgebung fühlte Melanie sich unwohl und auch sehr unsicher. Sie kannte sich nicht damit aus. Nicht mit der Umgebung, nicht mit den Gepflogenheiten, nicht mit den Menschen. Noch nicht einmal richtig mit der Sprache.
Wahrscheinlich hatte sie bisher von bayrischen Dörfern eine eher klischeehafte Vorstellung gehabt. Schlitzohrige Bauern vielleicht, aber keine Kriminellen. Und junge Mädchen oder Frauen in Dirndln, die nur darauf warteten, von einem dieser Bauern geheiratet zu werden. Keine großen Erfinder oder Nobelpreisträger.
Aber möglicherweise hatte sie die Dorfbevölkerung unterschätzt. Nicht nur, dass Jana auf sie sehr intelligent wirkte, auch der Brand auf diesem Bauernhof war vielleicht kein Zufall gewesen.
Es war gleich Mittagspause im Autohaus, vor dem Melanie jetzt auf sie wartete. Jana hatte gesagt, sie würde heute Nachmittag freinehmen, um Melanie zu helfen. Obwohl Melanie sie nicht darum gebeten hatte. Die Idee, Jana nach Unterstützung zu fragen, war ihr gestern ganz spontan in der Gaststube gekommen, als sie sie da sitzen sah.
Ihre Mundwinkel zuckten. Und so schön aussehen sah. Sie wusste, dass Janas Aussehen etwas damit zu tun hatte. Melanie hätte ja auch Zenzi Brandl fragen können. Die durch ihren ständigen Kontakt mit bestimmt fast sämtlichen Bewohnern des Dorfes eigentlich sogar die bessere Ansprechpartnerin gewesen wäre.
Aber Zenzi Brandl war – sie schüttelte schmunzelnd den Kopf – . . . auf jeden Fall nicht Jana.
Mitten in ihre Gedanken hinein nahm sie eine Bewegung am Eingang des Autohauses wahr. Ein Mann kam heraus, dann eine Frau. Von Jana war nichts zu sehen.
Die Frau drehte sich noch einmal um und rief etwas in den Eingang hinein zurück. Es klang so wie »Du kommst nicht mit?«
Melanie stand leicht seitlich vom Eingang, und die Frau sprach in die andere Richtung, deshalb konnte sie es nicht genau verstehen. Die Antwort, die aus dem Inneren kam, noch weniger.
Ein paar Sekunden lang tat sich nichts am Eingang, dann trat Jana heraus, aber sie war nicht allein. Ein Mann von etwa fünfunddreißig begleitete sie. Er trug einen Anzug und eine Krawatte, die mit ihrem auffälligen Muster wahrscheinlich sofort alle Blicke auf sich zog.
Ein Autoverkäufer vermutlich, ein Kollege von Jana. Die Art eines Verkäufers hatte er auf jeden Fall. Er lachte, als wäre er sehr von sich selbst überzeugt und könnte alles verkaufen. Dann griff er an Janas Arm und wollte sie mit sich ziehen, von Melanie weg.
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