Sie wusste absolut nicht, wie ihr geschah, doch Ritva schien es zu wissen, denn sie lächelte noch mehr, als sie sich auf den leeren Platz neben Jana setzte und sie damit fast aus dem Klassenzimmer trieb.
Aber sie konnte natürlich nicht gehen. Sie musste sitzen bleiben. Die Beherrschung, die ihr das abverlangte, war übermenschlich, unmenschlich sogar, wenn man es auf einer Skala der Tortur betrachtete, die man einem Menschen überhaupt zufügen konnte.
Und trotzdem war es ein herrliches Gefühl. Ein berauschendes Gefühl. Ein Gefühl, als wäre sie plötzlich aus dem Ei geschlüpft wie ein Küken, das zum ersten Mal seine Flügel spreizen konnte, oder aus einem Kokon, in dem ein Schmetterling versteckt gewesen war, der sich jetzt in die Lüfte erhob.
Ritva war im Gegensatz zu Jana keine Jungfrau mehr. Sie hatte schon Erfahrung. Und schnell merkte Jana, dass Ritvas skandinavisches Erbe ihr eine Freiheit und Unbeschwertheit verlieh, die in einem bayrischen Dorf eher ungewöhnlich waren. Da Janas Lehrerin sie dann auch noch darum bat, Ritva doch bitte auf den Stand der Klasse zu bringen, saßen sie nicht nur in der Schule nebeneinander, sondern verbrachten auch ab dem ersten Tag jeden Nachmittag miteinander, um Hausaufgaben zu machen. Und das hatte Folgen.
Ob sie sich ganz von allein getraut hätte, Ritva anzusprechen, wusste Jana nicht, aber darüber musste sie sich auch keine Gedanken machen, denn Ritva hatte damit absolut keine Probleme. Nicht nur, dass sie allein schon dadurch, dass sie nebeneinander saßen, in gewisser Weise dazu gezwungen waren, miteinander zu sprechen, Ritva ließ auch sehr schnell keinen Zweifel daran, dass sie darüber hinaus Interesse an Jana hatte. Obwohl sie beide fünfzehn Jahre alt waren, hatte Jana das Gefühl, Ritva wäre viel älter als sie.
Ritvas Eltern hatten für die Zeit, in der Ritvas Vater an der Brücke arbeitete, ein umgebautes altes Bauernhaus im nächsten Dorf gemietet. Da das Haus, in dem Jana und ihre Mutter wohnten, sehr viel näher an der Schule lag, ergab es sich fast von selbst, dass Ritva und sie dort zusammen Hausaufgaben machten. Nach der Schule gingen sie gemeinsam nach Hause wie Schwestern, und Janas Mutter freute sich, nun zwei Kinder zu haben, die sie bekochen konnte. Ritva war von der deftigen bayrischen Küche begeistert und bedankte sich immer wieder überschwänglich dafür, sodass Janas Mutter oft ungläubig lachte, denn so etwas war sie nicht gewöhnt.
Janas Vater war bereits gestorben, als sie acht Jahre alt gewesen war. Ihre Mutter hatte nie wieder geheiratet. Obwohl Jana sehr an ihrem Vater gehangen hatte, hatte sie sich langsam daran gewöhnt, mit ihrer Mutter allein zu sein. Ihre Mutter arbeitete als Bürokraft in einem Teppichbodenmarkt und kam zum Mittagessen immer nach Hause. Danach ging sie wieder zur Arbeit. So waren Ritva und Jana nachmittags allein.
Am dritten Tag hatte Ritva Jana dann mitten bei den Mathe-Hausaufgaben geküsst. Mathe war sowieso nicht so Ritvas Ding, während Jana immer gern mit Zahlen herumspielte. Das machte ihr Spaß und da fühlte sie sich sicher.
Gar nicht sicher fühlte sie sich jedoch bei diesem Kuss, der so überraschend für sie kam. Zuerst wusste sie überhaupt nicht, was sie tun sollte. Die heißen Wellen kehrten zurück, nachdem sie zuvor versucht hatte, ihr Herz nicht so laut klopfen zu lassen, dass Ritva es hören konnte. Sie hatte sich auf die Matheaufgabe konzentriert, um sich davon abzulenken.
Ritva konzentrierte sich nur ungern auf Mathe, und so hatten ihre Augen ständig an Janas Lippen gehangen, während sie ihr etwas erklärte. Irgendwann hatte sie diesen Lippen wohl nicht mehr widerstehen können. Oder vielleicht wollte sie sich auch einfach nur nicht mehr mit Mathe beschäftigen. Das hatte Jana nie herausgefunden.
Die Erfahrung, die Ritva Jana voraushatte, hatte Jana gar keine Chance gelassen, darüber nachzudenken, was dann an diesem Nachmittag geschah. Und außerdem war sie zum Denken sowieso nicht mehr in der Lage gewesen. Sie hätte keine Matheaufgabe mehr lösen können, selbst wenn sie das gewollt hätte.
Das kam ihr jedoch überhaupt nicht in den Sinn. Ritvas Lippen und Ritvas Hände waren alles, woran sie noch dachte. An diesem Nachmittag wurden keine Hausaufgaben mehr gemacht, und erst als sie ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kommen hörten, zogen sie sich wieder an.
Jana musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie hastig das vonstattengegangen war. Denn erst nachdem sich der Hausschlüssel ihrer Mutter im Schloss gedreht hatte, hatten sie mitbekommen, dass es schon so spät war. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Hätte man Jana gefragt, hätte sie wahrscheinlich gesagt, es wären nur ein paar Minuten gewesen statt der Stunden, die sie in Wirklichkeit mit ihren Zärtlichkeiten verbracht hatten.
Dieses erste Mal würde sie nie vergessen. Beinah spürte sie Ritvas Lippen wieder auf ihren, und sie wäre sich fast selbst mit der Zungenspitze darübergefahren, weil es auf einmal so kribbelte.
»Guten Abend, Frau Tieck«, hörte sie Zenzis Stimme wie durch eine Nebelwand.
Die plötzlich aufriss, als Jana bewusst wurde, dass sie diesen Namen heute schon einmal gehört hatte.
»Guten Abend«, antwortete Melanies Stimme, bevor sich die Nebel vor Janas Augen lichteten und sie sie richtig erkennen konnte.
Es waren nur die Erinnerungen an Ritva, die ihr Herz so einen kleinen Satz machen ließen, oder? Sie war noch nicht ganz wieder aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Ihre Augen öffneten sich weiter als beabsichtigt, weil sie den Schleier der Erinnerung abstreifen wollte.
Da der Tisch, an dem Jana saß, der Eingangstür genau gegenüberlag, gab es nur eine kleine Verzögerung, bevor auch Melanie sie entdeckte, als ihr Blick von Zenzi zurückschwenkte. Sie schien kurz zu stutzen, dann nickte sie Jana knapp zu.
»Was möchten Sie trinken?«, fragte Zenzi im gleichen Moment freundlich und ging mit zwei Maßkrügen in den Händen, die für den Stammtisch bestimmt waren, auf Melanie zu.
Fast wie entsetzt starrte Melanie auf die überdimensionalen Krüge.
»Das müssen Sie nicht trinken.« Jana lachte und hob ihr eigenes Glas an. »Es gibt auch Wein.«
»Ich . . .« Melanie räusperte sich. »Ich mag Bier. Nur vielleicht in einem etwas kleineren Glas?« Sie blickte Zenzi leicht unsicher fragend an.
Sie ist süß, dachte Jana. Sie will es nicht sein, aber sie ist es.
»Ein Pils?«, fragte Zenzi, die die Maßkrüge mit einer solch selbstverständlichen Kraft stemmte, dass es aussah, als hielte sie nur leichte Hanteln. Sie brauchte kein Fitnessstudio, um zu trainieren. Das tat sie schon bei der täglichen Arbeit.
»Gern.« Melanie nickte. Ihr Blick wanderte wieder zu Jana hinüber.
Mutter wartet mit dem Essen auf mich, dachte Jana. Ich sollte gehen.
Dennoch blieb sie sitzen. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass Melanies Haar fast so blond war wie Ritvas. Nicht ganz, und es war viel kürzer, beinah wie ein Igel.
Sie wusste, dass solche Haare wunderbar kitzeln konnten, wenn man darüberstrich. Ihre Brustwarzen richteten sich auf.
Doch nicht jetzt! Unwillkürlich hätte sie fast an sich hinuntergeschaut, aber im letzten Moment hielt sie sich zurück. Auf jeden Fall war sie froh, dass sie keine enganliegende Bluse trug.
Sie sah, dass Melanies Blick immer noch auf ihr ruhte, und fragte sich, ob sie etwas bemerkt hatte. Ein verdächtiges Kribbeln sammelte sich auf ihren Wangen. Sie würde jetzt doch wohl nicht rot werden? Bitte, bitte nicht.
Melanie schien immer noch zu zögern und sah sie nur an. Traute sie sich etwa nicht, zu Jana an den Tisch zu kommen? Oder wollte sie es nicht?
»Kennt ihr euch schon?«, fragte Zenzi da völlig unbeeindruckt von all dem, was gerade hier durch den Raum schwebte, und ließ ihren Blick zwischen Melanie und Jana hin- und herschwenken.
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