Melanies Augenbrauen zogen sich zusammen, denn sie hatte nicht den Eindruck, dass Jana sich ziehen lassen wollte. Sie wehrte sich nicht sehr, aber sie gab dem Zug auch nicht nach, sodass er stehenbleiben musste.
»Was ist?«, fragte er, nun anscheinend von einer Sekunde auf die andere nicht mehr so gutgelaunt wie eben noch. Er wirkte verärgert.
»Ich bin . . .« Jana räusperte sich. »Ich bin zum Mittagessen verabredet.« Sie drehte sich halb zu Melanie um und warf einen Blick auf sie.
Der Mann folgte ihrem Blick mit seinem, starrte Melanie allerdings weit weniger freundlich an. Von dem charmanten Verkäuferlächeln war nichts mehr übrig. »Das ist nicht Nicky«, stellte er höchst zutreffend fest.
»Nein«, gab Jana zu. »Das ist . . . Melanie. Sie wohnt bei Zenzi.« Als er sie so ansah, als würde er nicht verstehen, setzte sie erklärend hinzu: »Du weißt doch, Zenzi Brandl, meine Cousine. Vom Landgasthof.«
»Ich kenne Zenzi«, gab er unwirsch zurück, als hätte er nicht eben noch so getan, als wüsste er mit dem Namen nichts anzufangen.
Der Mann benahm sich, als hätte er ein Recht auf Jana, dachte Melanie, während sie dieses Hin und Her beobachtete. Der war nicht nur ein Kollege.
»Melanie Tieck«, stellte sie sich vor, ging die paar Schritte, die sie trennten, auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.
»Lehner«, brummte er nur, als müsste er sich schwer dazu überwinden. Dennoch war sein Händedruck, als er Melanies Hand nahm, sehr fest. Er tat ihr fast weh.
Lehner , dachte sie. Das war der Name, der über dem Eingang des Autohauses stand. Also war das hier kein Kollege, das war Janas Chef. Und anscheinend auch noch etwas anderes.
Wie gewonnen, so zerronnen. Sie seufzte innerlich. Wobei sie Jana ja noch gar nicht gewonnen hatte. Sie war noch nicht einmal in die Nähe auch nur eines Versuchs gekommen, die Möglichkeit dazu auszutesten. Während ihres Gesprächs in der Gaststube gestern Abend hatte sie sich jedoch ganz unwillkürlich so das eine oder andere vorgestellt. Es war ihr schwergefallen, sich von Janas Lippen zu lösen, wenn sie sprach. Und auch, wenn sie nicht sprach.
Aber auf ihre Lippen hatte wohl dann eher dieser Mann Anspruch, der Melanie immer noch so betrachtete, als wäre sie ihm ein Dorn im Auge. Was sie wahrscheinlich auch war. Was auch immer für ein Verhältnis er mit Jana hatte, außerhalb ihres beruflichen. Schließlich konnten Dorfschönheiten wie Jana nicht nur von irgendwelchen Bauern geheiratet werden, sondern auch von dem offenbar sehr selbstgefälligen Besitzer eines Autohauses. Vielleicht war er sogar die bessere Partie.
Zwar machte Jana nicht den Eindruck, dass es ihr sehr auf Geld ankam, aber was wusste sie schon von ihr? Auf der einen Seite gab sie sich wie ein offenes Buch, auf der Rückseite jedoch mit sieben Siegeln. Gestern Abend im Landgasthof der Brandls hatte Melanie für einen kurzen Augenblick das Gefühl gehabt, Jana wollte ihr etwas sagen. Aber dieser Augenblick war so schnell vorbei gewesen, wie er gekommen war.
Die Frage war zudem, worauf hätte sich das beziehen können, was Jana ihr eventuell hatte sagen wollen? Auf etwas Privates oder auf etwas, das mit Melanies Beruf zu tun hatte, was bedeutete: dem Brand auf dem Bauernhof.
Gestern hatte Melanie sich gewünscht, es wäre etwas Privates gewesen, aber heute hatte sich das ja bereits erledigt. Das gewisse Kribbeln, das Melanie kurz gespürt hatte, diese Spannung, die auf etwas hindeutete, das unausgesprochen zwischen ihnen stand, konnte sich jedenfalls nicht auf Melanie als Person bezogen haben.
Wie hatte sie nur darauf kommen können? Schließlich war das hier nicht Berlin, wo die Blicke einer Frau nicht nur oberflächliches Interesse bedeuten konnten. Das hier war ein Dorf. Und dazu noch in Bayern. Hier konnte wahrscheinlich niemand das Wort Lesbe überhaupt buchstabieren.
»Melanie ist eine alte . . . Schulfreundin«, erklärte Jana in diesem Moment. »Sie besucht mich nur kurz, weil sie beruflich hier zu tun hat.« Hinreißend lächelte sie Melanie an. »Und da wollen wir natürlich so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Sie muss ja bald wieder wegfahren.«
Janas Lächeln warf Melanie fast um. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Sie hätte fast geschluckt, konnte sich jedoch im letzten Moment noch zurückhalten, weil sie merkte, dass Herr Lehner sie immer noch beobachtete. Sein Alleinfanspruch auf Jana war deutlich erkennbar. Daran ließ er keinen Zweifel.
»Ja, ich muss bald wieder nach Berlin zurück«, bekräftigte sie deshalb Janas letzte Aussage, ohne ihre Beförderung zur Schulfreundin in Frage zu stellen. »Leider nicht so schön wie hier«, sie hob eine Hand und wies auf die Umgebung, »aber was will man machen? Ich arbeite dort.« Sie lächelte ihn fast entschuldigend an, weil sie das Gefühl hatte, dass er jede Art von Beruhigung vertragen konnte.
Obwohl sie es auf der anderen Seite merkwürdig fand, dass er eine Frau als Bedrohung empfand. Aber das musste nicht heißen, dass er eine gewisse Chemie zwischen Jana und Melanie vermutete. Manche Männer wollten ja überhaupt nicht, dass ihre Frau Kontakt zur Außenwelt hatte. Sie unterbanden sogar regelmäßige Beziehungen zu Familienmitgliedern.
Viel merkwürdiger fand Melanie allerdings, dass Jana sich das bieten ließ. Sie war eine außergewöhnlich attraktive junge Frau, und die heiratsfähigen Männer hier im Dorf mussten sich doch die Finger nach ihr lecken. Wenn sie nicht die Wahl hatte, wer dann?
»Kommst du?«, fragte Jana jetzt und schob ihren Arm unter den von Melanie. »Sonst sind die besten Gerichte schon aus.«
Neben dem Schlag, der sie bei der Berührung fast traf und zusammenzucken ließ, stellte Melanie fest, dass sie nun auch vom Sie ins Du befördert worden war. Was ja aber auch so sein musste, als Schulfreundin.
»Was könnte denn da aus sein, wo wir hingehen?«, fragte sie etwas verdattert.
»Du magst doch so gern Knödel«, behauptete Jana frank und frei. »Und im Grünen Baum gibt es die immer nur in begrenzter Zahl. Wenn sie weg sind, sind sie weg.«
Auch wenn sie die Leberknödel gestern durchaus gern gegessen hatte, fragte Melanie sich, woher Jana wissen wollte, dass sie Knödel generell mochte. Aber das lag wohl so auf derselben Linie wie Schulfreundin . Es hatte im Grunde genommen nichts mit Melanie zu tun. Jana erfand das einfach aus dem Augenblick heraus.
Melanies Überzeugung, dass Jana eine Frau war, die nicht absichtlich log, geriet ins Wanken. Dafür schoss sie diese Fantasiegebilde doch etwas zu leicht und zu schnell hintereinander ab.
»Dann müssen wir uns wohl tatsächlich beeilen«, unterstützte sie Janas aus der Luft gegriffene Überzeugung. Mit ihr am Arm drehte sie sich um und entfernte sich von dem damit nicht sehr einverstanden wirkenden Herrn Lehner.
»Tut mir leid«, entschuldigte Jana sich leicht betreten, als sie aus seiner Hörweite waren. »Ich weiß, ich habe dich – oh Entschuldigung, Sie – damit jetzt sehr überrumpelt.«
»Falls wir Ihren – ähm deinen – Chef noch einmal treffen sollten, wäre es vielleicht ganz gut, wenn wir beim Du blieben«, sagte Melanie.
Aus irgendeinem Grund griff sie nach diesem Du wie nach einem Strohhalm. Als ob allein das sie Jana näherbringen konnte, obwohl es nur eine Farce war. In gewisser Weise brachte Jana sie um den Verstand, auf den sie sich normalerweise so gut verlassen konnte. Das verunsicherte sie immer mehr.
»Meinetwegen«, erwiderte Jana. Sie ließ Melanies Arm, den sie bis eben noch untergehakt hatte, los. »Es ist ja sowieso meine Schuld.«
Die Wärme von Janas Körper so nah an ihrem vermisste Melanie sofort, noch mehr als die Berührung an ihrem Arm, an die sie sich nach dem ersten elektrischen Schlag nicht ungern gewöhnt hatte.
Читать дальше