Das führte er darauf zurück, dass sie damals sofort ihre gesamte Energie in ihre Musik und das Schreiben von Songs gesteckt hatte. Er fragte sich allerdings ständig, ob das nicht vielleicht nur ihre Art war, die unausweichliche Trauer hinauszuzögern, die dann wahrscheinlich eines Tages auf völlig unberechenbare Weise hervorbrechen würde.
Im Unterschied zu ihm machte sie sich große Sorgen um ihre Zukunft. Aber er schätzte, auch ohne etwas von Musik zu verstehen, ihre Entschlossenheit, den Weg als Musikerin zu gehen. Kylee hatte zwar beide Eltern verloren, aber er würde alles tun, was in seiner Macht stand, um zu verhindern, dass ihr auch noch ihre Träume verloren gingen.
5
Q
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ließ Serena die Kinder bei Muriel und fuhr auf der Halbinsel Sleat nach Armadale. Als sie den Umzug nach Skye geplant hatte, war ihr klar gewesen, dass sie nicht die ganze Zeit bei Muriel würden wohnen können. Ihre Tante hätte sie bestimmt gerne bei sich aufgenommen, aber weil Max nachts ständig wach wurde und Tante Muriel einen sehr leichten Schlaf hatte, war es besser, ein Ferienhaus zu mieten. Leider waren die meisten Unterkünfte, in denen sie bis August bleiben konnten, schon ausgebucht, und es war nur noch dieses kleine Häuschen etwa acht Kilometer entfernt von Armadale Castle, am äußersten Zipfel der Halbinsel, frei.
Langsam fuhr sie die Straße entlang, die vom starken Dauerregen nass glänzte. Ganz allmählich setzte sich Grün gegen die Grau- und Brauntöne des Winters durch, ein sicheres Zeichen, dass es bald Frühling werden würde. Insgeheim hatte sie zwar schon immer den Winter auf Skye geliebt, wenn die urige Schönheit der Insel durch einen feinen Schneeüberzug noch hervorgehoben wurde, aber der langsame Wechsel der Jahreszeiten brachte auch eine ganz besonders passende Verheißung für sie mit sich: die Verheißung auf einen Neuanfang, neues Leben nach einem langen, kalten Winter.
Serena hielt sich an die Wegbeschreibung, die sie auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt hatte und hielt Ausschau nach einem Baum mit einem abgebrochenen Ast, der direkt an der ansonsten nicht weiter beschilderten Abzweigung auf die lange Zufahrt zu dem Haus stehen sollte. Wegen der tiefen Furchen auf dem Weg wurde sie heftig durchgeschüttelt und hatte richtig Angst, dass der Wagen aufsetzen könnte. An beiden Seiten der Straße sammelte sich das Regenwasser in ausgewaschenen Rinnen und füllte die Schlaglöcher, die das Wintereis hinterlassen hatte, nachdem es durch den leichten Nieselregen zerbrochen war.
Sie folgte dem kurvigen Weg auf eine Anhöhe hinauf und hielt vor einem winzigen Cottage an. Von außen sah das Haus wirklich vielversprechend aus: weiß gekalkte Steinmauern und seitlich vom Haus ein eingezäunter Garten mit einer Picknickbank auf einer gekiesten Fläche. Der Eigentümer hatte sich eindeutig Mühe gegeben, das Haus zu einer einladenden Ferienunterkunft für Urlauber zu gestalten.
Sie stieg aus dem Wagen und schloss den Reißverschluss ihrer Wachsjacke gegen eine plötzliche eisige Windbö. Trotz all ihrer romantischen Frühlingsgedanken war der Wind immer noch so schneidend kalt wie im Winter.
In diesem Moment ging die Tür des Cottages auf und ein älterer Herr in einer Cordjacke und mit einer Wollmütze auf dem Kopf tauchte in der Tür auf. „Mrs Stewart?“
„Mr Brown?“
Er nickte, bedeutete ihr mit einer Geste einzutreten und sagte: „Na, dann kommen Sie mal herein und schauen Sie es sich an.“
Offenbar war er kein Freund von Smalltalk. Serena quetschte sich an ihm vorbei in das winzige Cottage und schaute sich um. Es war sehr schlicht, aber gepflegt eingerichtet mit Flickenteppichen, Möbeln aus Pinienholz und bot gerade genügend Platz für zwei bis drei Personen. Mehr als ausreichend also für ihren zeitlich begrenzten Aufenthalt.
„Es gibt ein Schlafzimmer am Ende des Ganges und der Dachboden ist zu einer Art Studio ausgebaut“, sagte er.
Sie nickte und schaute sich um, wie viel Platz ihr zur Verfügung stand. „Wo sind denn die Heizkörper?“, fragte sie.
„Es gibt keine, meine Liebe.“
„Wie bitte?“
Er machte mit dem Kopf eine Geste – offenbar als eine Aufforderung, ihm zu folgen – und führte sie zu einem Holzherd in der kleinen Küche. Es gab keine Heizkörper, sondern nur den alten Holzherd zum Heizen und Kochen, und sie wusste nicht einmal, ob sie den überhaupt bedienen konnte.
„Hinter dem Haus ist Holz aufgestapelt. Mehr als genug für den ganzen Sommer.“
Ihre Hoffnung schwand genauso schnell, wie sie in ihr aufgekeimt war. Eine elektrische Kochplatte und einen Minibackofen zum Kochen hätte sie besorgen können, aber die Nächte auf Skye waren auch im Sommer kühl. Und selbst wenn sie bereit gewesen wäre, den Ofen ständig einzuheizen, war ihr bei der Vorstellung des heißen, gusseisernen Ofens in der Nähe eines neugierigen Dreijährigen höchst unwohl.
„Das muss ich mir erst überlegen“, sagte sie langsam. „Ich habe nicht gewusst, dass das hier die einzige Wärmequelle ist.“
Der Vermieter zuckte daraufhin nur mit den Achseln und führte sie wieder nach draußen, wo inzwischen aus dem leichten Nieseln richtiger Regen geworden war. Sie setzte ihre Kapuze auf, gab Mr Brown zum Abschied die Hand und rannte zurück ins warme Auto.
Das war also ein Flop gewesen. Sie hatte wirklich keine hohen Ansprüche, aber eine zuverlässige Heizung ohne offenes Feuer gehörte dazu. Was sollte sie jetzt tun?
Sie musste sich auf jeden Fall eine andere Unterkunft suchen, dabei war es schon schwierig genug gewesen, im Einzugsgebiet der Schule dieses Cottage zu finden. Selbst wenn sie ein bezahlbares Haus zur Miete fände, musste es außerdem noch innerhalb der Grenzen des Schulbezirks liegen, damit ihr Plan, Em nach der Schule allein mit dem Schulbus nach Hause fahren zu lassen, aufging.
Eigentlich hatte Serena vorgehabt, von der Cottagebesichtigung aus direkt zum Hotel zu fahren, aber stattdessen fuhr sie nun den ganzen Weg über die Halbinsel Sleat zurück und dann noch einmal fast eine Stunde weiter nach Portree zu ihrem Lieblingscafé. Dort gab es nicht nur hervorragenden Caffè Latte, sondern auch kostenloses W-Lan und ein schwarzes Brett, auf dem Einheimische oft freie Zimmer oder Ferienhäuser aushängen. Dass sie nicht sofort ins Hotel gefahren war, hatte nichts mit einer Vermeidungsstrategie zu tun und mit dem flattrigen Gefühl im Bauch, wenn sie an Malcolm Blake dachte, sondern damit, dass es für sie im Moment oberste Priorität hatte, eine Unterkunft zu finden.
Doch nachdem sie erst das schwarze Brett vergeblich abgesucht und dann noch eine Stunde im Internet recherchiert hatte, musste sich Serena eingestehen, dass es wohl aussichtslos war, etwas zu finden. Sogar die Reservierungen des Hotels war sie durchgegangen, um nachzuschauen, ob eines der zu ihm gehörigen Ferienhäuser noch frei war. Doch die waren natürlich für den gesamten Sommer bis September ausgebucht. Aber vielleicht war das ja auch ganz gut so. Denn direkt vor Ort zu sein, hätte ihren Plan, dem Hotelmanager möglichst aus dem Weg zu gehen, erheblich erschwert.
Sie stand jetzt auf und ging wieder hinaus zu ihrem Wagen. Währenddessen wappnete sie sich innerlich dafür, ihm ganz klar zu signalisieren, dass sie genauso das Recht hatte, im Hotel zu sein wie er. Als Teilhaberin war es schließlich ihre Verantwortung, sich die Buchführung anzuschauen und sich ein Bild davon zu machen, wofür Geld ausgegeben wurde. Sie konnte Malcolm zwar nicht zwingen, nett zu sein, aber sie konnte sich weigern, sich von ihm und seiner Art unterkriegen zu lassen. Schließlich war die Leitung des Hotels keine Privatangelegenheit.
Auf dem Rückweg nach Isleornsay wurde aus dem leichten Landregen ein Wolkenbruch. Wenn das so weiterging, würde das Hotelgelände bis zum Morgen eine Schlammwüste sein. Sie parkte vor dem Hotel, zog den Reißverschluss ihrer Jacke wieder hoch und atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich in den Kampf stürzte.
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