Es war einfach so .
Punkt .
Die Laserbehandlungen, die diese weißlichen Veränderungen an der Zungenoberfläche wegbrannten, waren extrem schmerzhaft, doch mein Körper funktionierte gut, er regenerierte unglaublich schnell, die Erholung von den traumatischen Eingriffen dauerte nie lange, eine Woche maximal. Doch die ständigen Eingriffe hinterließen Spuren, sowohl in der Mundschleimhaut als auch in meinem Kopf.
Meine junge Seele war überfordert .
Und allein .
Unfähig, die ständigen Rückschläge richtig einzuschätzen, in laufender Sorge um meine Gesundheit, versuchte ich, mich noch mehr auf das Positive in meinem Leben zu konzentrieren. Ich begann, wieder mehr Sport zu treiben. Kein Schwimmtraining, aber die tägliche Einheit Krafttraining, Lauftraining oder Radtraining musste es immer sein. Das Training gab mir ein Gefühl von Stärke. Ich wurde kräftiger, schneller zu Fuß und auch auf dem Rad, widerstandsfähiger in allen Spielsportarten und empfand mich als belastungsresistenter. Meine körperliche Stärke half mir, die Gefahr einer erneuten Krebserkrankung zu vergessen. Zumindest bis zur nächsten Untersuchung.
Nach meiner sechsten Zungenoperation traf ich eine Entscheidung. Ich konnte nicht alle zwei Monate eine Operation ertragen, auch wenn es jedes Mal nur ein kleiner Eingriff war. Das Gewebe veränderte sich ständig, allein durch die neu entstehenden Narben. Weder die Ärzte noch ich selbst wussten mit Gewissheit, ob all die weißlichen Veränderungen auf meiner Zunge eine Gefahr darstellten.
Niemand kannte mein Immunsystem .
Ich auch nicht .
Da es keinen offensichtlichen Grund für mein Plattenepithelkarzinom gegeben hatte, auch keinen für die ständig auftretenden Leukoplakien, entschieden die Ärzte auf mein Drängen hin, die Veränderungen zu beobachten, anstatt sie zu operieren. Eine gute Entscheidung. Die Leukoplakien traten auch weiterhin auf, veränderten sich ständig in Größe und Form, meistens verschwanden sie wieder, um dann bald an anderer Stelle aufzutauchen. Der Blick in meinen Mund wurde zum Ritual meiner Morgenhygiene. Ebenso am Abend. Es gab unzählige Momente, in denen mir die Angst Streiche spielte: Ich begann zu schwitzen, der Blutdruck und mein Puls stiegen, ich lief alle fünf Minuten zum Spiegel, um meinen Mund zu kontrollieren. Ich schwankte zwischen Panik und Vernunft. Diese Anfälle dauerten oft mehrere Tage. Die Krebserkrankung, abgelegt in einer verschlossenen Gruselkammer meines Kopfes, kroch immer wieder in mein Bewusstsein. Es bedurfte vieler Überzeugung und noch mehr Willenskraft, meiner Angstschübe Herr zu werden.
Diese Situationen forderten mich .
Aber sie stärkten mich auch .
Langsam und beständig schulte ich meine Vernunft und meinen Willen. Ich musste die Panik besiegen. Einen Weg finden, um mit der Bedrohung umzugehen. Darüber zu sprechen, war für mich keine Lösung. Ich schenkte meiner Krankheit, die ich nicht als solche akzeptierte, keine Aufmerksamkeit mehr. Ich hatte immer das Gefühl: Je weniger ich dem Krebs und seinen Bedrohungen Platz biete, desto besser kann ich mich auf meine Stärken konzentrieren. Ich versuchte, den Krebs zu minimalisieren. Er war für mich ein lokales Problem, er hatte keinen Einfluss auf den Rest meines Körpers. Ich wollte ihm sprichwörtlich keinen Raum geben. Monat für Monat wurde ich stärker. Körperlich und seelisch. Meine Gruselkammer öffnete sich immer seltener, sie war da, doch ich nahm den Inhalt nicht mehr heraus. Ab und zu dachte ich noch an die Operationen, an die lähmende Unsicherheit, doch selbst die Kontrolluntersuchungen, die ich alle vier Monate über mich ergehen lassen musste, wurden zur Routine. Sie stressten mich nun weniger als unmittelbar nach meiner Krebsdiagnose.
Ich vermied das Wort Krebs bewusst. Nie nannte ich das Krebsgeschwür Krebs . Niemand konnte mir erklären, warum mich der Krebs heimgesucht hatte, ich hatte keine Verbindungen zu meiner Krankheit. Der Krebs war auch nicht durchgängig präsent. Er kam aus dem Nichts, ich musste mich eine Zeit lang mit ihm beschäftigen, so lange, bis ich ihn wieder in die Kammer schließen konnte. Er war kein dauerhafter Begleiter, vielmehr ein lästiger Zeitgenosse, der mir immer wieder auf mein Gemüt schlug, ohne durchgehend Schaden anzurichten.
Nach fünf Jahren – das ist der Zeitraum, nach dem Experten den Krebs als besiegt betrachten – ging ich nicht mehr zur Kontrolluntersuchung. Aufforderungen seitens des Landeskrankenhauses, weiterhin in ärztlicher Betreuung zu bleiben, ignorierte ich. Die Beschäftigung mit diesem Thema tat mir nicht gut. Ich hatte keinen Rückfall, die oberflächlichen Veränderungen auf meiner Zunge nahm ich zur Kenntnis, bevor ich sie schlussendlich ebenfalls ignorierte. Ich fühlte mich körperlich und seelisch so stark wie noch nie; ich beschloss, den Krebs endgültig aus meinem Leben zu streichen. Ich war 23 Jahre jung, rauchte nicht, war sportlich, hatte keine Risikofaktoren und ernährte mich ausgewogen.
Keine Kontrollen mehr, kein Arzt, kein Krebs – so einfach war das Leben .
Fortan genoss ich meine Studienzeit in vollen Zügen .
Ich arbeitete nun auch als Schwimmtrainer und stillte mit dieser Tätigkeit meinen immer noch brennenden Ehrgeiz. Dem Sport blieb ich somit treu, nun auf der anderen Seite des Beckens. Meist basierend auf Erfahrungen aus dem Studium, der eigenen Schwimmkarriere, oft auch durch simples Ausprobieren versuchte ich, meinen eigenen Stil als Trainer zu finden. Ich beging in meinen ersten Trainerjahren viele Fehler, korrigierte jedoch meist alle. Die Erfahrungen, die ich daraus gewinnen und mitnehmen konnte, waren Gold wert. Ich zog mein Wissen aus Eigenerfahrung. Ich bekam eine zweite Chance. Ich arbeitete daran, meine Ziele durch andere wahr werden zu lassen. Ich war derselbe junge Mensch mit denselben ehrgeizigen Zielen, den gleichen Antrieben. Als Athlet hatte ich meine Grenzen erkennen müssen, als Trainer schienen mir alle Möglichkeiten offen. Ich glaubte fest an die Möglichkeit, den Schlüssel zum Erfolg zu finden. Mit Hilfe des damaligen Landestrainers, der fachlich mein Mentor wurde, konnte ich gleichzeitig beobachten und frei von jedem Druck lernen. Ich wuchs im Schatten des Leistungssports langsam wieder in jenen Rhythmus hinein, der mir als Aktiver, als junger Schwimmer, zu intensiv geworden war.
Mein Ehrgeiz war wieder da .
When all I want is you .
U2, All I Want Is You
Blondes Haar, athletischer Körper, immer in Bewegung und doch nur ein Schatten, der mich regelmäßig streifte. Sie saß im selben Kurs, wir lauschten den Ausführungen unseres Professors über die Geschichte der Olympischen Spiele, dennoch trafen sich unsere Blicke immer wieder. Anders als ich das kannte. Schüchtern und doch neugierig. Verhalten, aber doch interessiert. Zufällig, aber doch bewusst.
Abgesehen von ein paar Begrüßungsfloskeln unterhielten wir uns das ganze Semester lang nicht, dennoch war Roswitha der Grund, warum ich mich jede Woche neu auf die Lehrveranstaltung an der Sportuniversität freute. Irgendetwas zog mich an. An ihr, an der Situation, an der Ungewissheit, ob sich etwas daraus entwickeln könnte, egal, in welcher Art. Abseits unserer gemeinsamen Lehrveranstaltung sah ich meine blonde Schönheit nur als kurzen Lichtblick an mir vorbeihuschen. Im Leistungszentrum nach dem Training meiner Schwimmer, als sie mir von einer Lehrveranstaltung auf dem Parkplatz ein Lächeln zuschickte, im Supermarkt, von ihr unbemerkt, als ich sie beim Einladen der Lebensmittel in ihr Auto beobachtete, oder am Abend auf der Tanzfläche eines Nachtlokals, in dem ich meine Augen nicht von ihr lassen konnte. Ich sah sie allein, aber auch häufig in der Begleitung eines kleinen Kindes, offensichtlich ihres Sohnes, der mir vor allem wegen seiner dicken Backen und seinem schelmischen Grinsen sofort in Erinnerung blieb.
Читать дальше