Und noch etwas blieb ihr ein Leben lang unmöglich: Sie konnte nicht von Nelly, ihrer toten Tochter und Magdas Mutter, sprechen und ertrug es auch nicht, wenn andere es taten. Nellys Leben, Nellys Tod – beides war tabu in der Familie Grilli. Im Schlafzimmer von Magdas Vater hing ein Foto der Verstorbenen. Es zeigte Nelly als junge, zerbrechlich wirkende, wunderschöne Frau – die Angebetete, die sie für Oscar ein Leben lang blieb.
»Weißt du, wer das ist?«, fragte der Vater Magda einmal. Es war einer der seltenen Tage, an dem sie ihn besuchte und dieses Zimmer betrat.
»Die Frau auf dem Bild? Nein. Das weiß ich nicht.«
Konnte sie es nicht sagen, ging ihr das Wort »Maman« nicht über die Lippen? Oder wusste sie es wirklich nicht? Auch die sechzigjährige Magda, die von ihren Kindern gedrängt ihre Erinnerungen auf ein Tonband sprach, konnte auf diese Frage keine Antwort geben.
Zu Grand-Maman gehörte ein Grand-Papa. Der war nicht tot, aber er war unsichtbar. Grand-Maman sprach nie von ihm, doch ab und zu erreichte die Enkelin ein Geschenkpäckchen, das Grand-Papa an einem geheimnisvollen Ort für sie aufgegeben hatte. Wo dieser Ort war und warum der Großvater niemals wie andere Großväter leiblich sichtbar wurde, war eines der vielen Rätsel, die Magdas Kindheit begleiteten.
Die zweite Frau in Magdas früher Welt war Nonna Grilli, Vaters Mutter. Vornehm, streng und standesbewusst war es für die geborene Italienerin selbstverständlich, Französisch zu sprechen. Des Italienischen bediente sie sich nur, um Handwerkern und Lieferanten Anweisungen zu geben. Zwischen ihr und Magda standen zuerst die Amme, dann ein ganzer Kometenschweif von Gouvernanten und vor allem sämtliche Konventionen, die geeignet waren, den Nachwuchs den Erwachsenen buchstäblich vom Leibe zu halten.
Die dritte Frau, die ebenfalls im Haus wohnte und Magdas Leben und Weltsicht mitbestimmte, war Tante Olga, die Schwester von Nelly, Magdas Mutter. Auch sie war so gut wie unsichtbar, dabei ruhte sie nur einige Schritte entfernt im abgedunkelten Nebenzimmer. Tagein, tagaus lag sie dort auf ihrer Chaiselongue. Tante Olga litt an Migräne, und für einige Jahre war es Magdas Traum, ihr Leiden teilen zu dürfen. Wer Migräne hatte, bekam von den Bediensteten Tee und edles Gebäck gereicht, das er im Liegen zu sich nehmen durfte, dazu natürlich Anteilnahme und Nachsicht. Er musste nicht endlose Klavieretüden wiederholen oder eine tadellose Handschrift einüben. Er durfte einfach da sein und nichts tun. Was für ein Leben!
Tante Olga hatte eine Tochter, Lalli, das vierte weibliche Wesen in Magdas Welt. Aus den beiden fast gleich alten Cousinen wurden innige Vertraute – der Lichtblick in Magdas Kindheit.
Auch Lallis Familie war ohne einen Mann; der Vater hatte die Familie kurz nach der Geburt der Tochter verlassen und eine andere Frau geheiratet. Die kleine Magda zog daraus ihre eigenen Schlüsse: »Ich habe einen Vater. Lalli hat eine Mutter. Manche Kinder haben also einen Vater, andere haben eine Mutter.« Da man sich mit der Aufklärung der Kinder damals gehörig Zeit ließ, wurde Magdas Überzeugung erst nach Jahren erschüttert. Doch nicht etwa durch eine kindgemäße Aufklärung über Zeugung und Geburt, sondern durch eine jähe und geradezu brutale Aufklärung über ihr Schicksal, die ihr klarmachte, dass auch in ihrem Leben eine Mutter gewesen war. Eines Tages stand Magda daneben, als eine Kammerdienerin zur anderen sagte: »È lei che ha ammazzato sua madre!« (»Sie ist es, die ihre Mutter umgebracht hat!«) Erst begriff Magda gar nicht, von wem die Rede war. Aber dann sah sie den Blick der zweiten Zofe auf sich gerichtet. Sie war gemeint! Sie war die Mörderin ihrer Mutter!
Der Gedanke ließ Magda nicht mehr los, der Satz grub sich in ihr Herz ein. Einen Menschen, mit dem sie darüber hätte reden können, kannte sie nicht.
3
Angst
FLORENZ 1910–1911
Oscar Grilli di Cortona war ein Mann, der sein Herz nicht auf der Zunge trug. Vielleicht gehörte es nicht zu seinem Charakter und Temperament, Gefühle zu zeigen und zu benennen, vielleicht waren sie auch unter dem Panzer verschlossen, den die Erziehung in seinen Kreisen jedem jungen Mann um die Brust legte, damit er ein brauchbarer Offizier und würdevoller Repräsentant seines Standes wurde. Nur eine Regung seines Herzens blieb seiner Umwelt nicht verborgen: seine Liebe zu Elena Wissotzky Poggio, genannt Nelly. Nelly war die Liebe seines Lebens. Sie war es als Lebende, und sie blieb es als Tote. Daran änderte sich auch nichts, als Oscar noch einmal heiratete. Jahrelang hatte er der geballten Übermacht seiner Freunde und Ratgeber Widerstand geleistet. Ein Mann, zumal einer in seiner Stellung, müsse verheiratet sein, und so wie bisher gehe es einfach nicht weiter, fanden sie. Oscar hätte gerne so weitergelebt wie bisher, beruflich erfolgreich, privat jedoch einsam und zurückgezogen. Aber schließlich kapitulierte er und ließ sich nach neun Jahren als Witwer zu einer zweiten Ehe überreden.
Er wählte Marguerite, eine Italienerin, Katholikin, Florentinerin, nichts lag näher. Am 1. Dezember 1910 wurde Hochzeit gefeiert, anschließend bezog das Paar ein Haus in der Via Leone X°, nicht weit von der Fortezza – und übernahm Magda in den neu gegründeten Hausstand, jedenfalls für die Sonntage. Tatsächlich war die Zehnjährige für Marguerite so etwas wie eine Altlast ihres Gatten. Nicht, dass sie Kinder nicht gemocht hätte; sie wurde in der Folgezeit selbst Mutter von drei Kindern und war in dieser Rolle nicht unglücklich. Doch Magda war die wandelnde Erinnerung an die erste Ehe ihres Mannes und – weit wichtiger – an die große Liebe ihres Mannes. Dass diese Liebe fortbestand und fortbestehen würde, war Marguerite bald klar. Oscar trug ein Foto von Nelly im Portemonnaie, ihren Ring am kleinen Finger, eine Locke in einer Kette um seinen Hals … dieser Mann, der alles andere als ein Romantiker zu sein schien! Es wurde eine Ehe, die Magda später als Tragödie beschrieb. Marguerite war buchstäblich krank vor Eifersucht. Ihre finsteren Gefühle bezogen sich dabei auf Nelly wie auf Magda, auch wenn das Kind niemals einen sichtbaren Beweis väterlicher Zuwendung oder gar zärtlicher Gefühle erhielt. Und sie ließen im Lauf der vielen Jahre ihrer Ehe niemals nach. Marguerites ängstliches Wachen über ihren Mann machte wiederum Magda eifersüchtig – und konnte doch Oscars Bindung an Nelly nie aus der Welt schaffen. Auch als alter Mann las er noch die Briefe, die seine Verlobte ihm vor Jahrzehnten geschrieben hatte, mehr noch: Er schrieb sie alle von eigener Hand ab. Wieder und wieder versuchte er Nellys Unterschrift zu kopieren – wenigstens das letzte Wort sollte wie von ihr geschrieben aussehen. Nach seinem Tod gingen alle Briefe und das Medaillon mit der Locke in Magdas Besitz über.
Wer fast acht Jahre alt war, den hielt man in den besseren Florentiner Kreisen für alt genug, um das Haus zu verlassen und der höheren Bildung den notwendigen Tribut zu entrichten. Und so kam Magda in eine Internatsschule, die von deutschen Diakonissen geleitet wurde, das Istituto delle Diaconesse di Via Santa Monica auf der anderen Seite des Arno. Die aus der Nähe von Düsseldorf stammenden Kaiserswerther Schwestern hatten im Jahr 1860 ein »Lehr- und Erziehungshaus« gegründet, in dem sie toskanischen Kindern – Florenz gehörte noch nicht zum Vereinigten Italien – eine elementare Schulbildung vergleichbar den heutigen Grundschuljahren boten. Sie endete mit einer Prüfung an einer staatlichen Schule, und für die meisten der Schüler war die Schullaufbahn damit auch schon abgeschlossen.
Als Magda 1909 hier Schülerin wurde, waren fast alle Diakonissen alt, einige kannten sogar Magdas Großmutter, Nonna Grilli, noch als Schülerin. Magda war die Jüngste der Elevinnen, und ihr Bett im großen Schlafsaal war so hoch, dass sie mit Anlauf hineinspringen musste. Am Morgen musste dieses Bett sorgsam gemacht werden und durfte keinesfalls an den Kanten Betttuch-»Würstchen« aufweisen. (Das deutsche Wort »Würstchen« vergaß Magda nie wieder.) Jeden Donnerstagabend durften die Kinder Besuch empfangen, und zwar im kühlen, dunklen »Saal der Kaiser«, deren Porträts streng von den Wänden blickten. – »Vielleicht bin ich deshalb Republikanerin geworden?«, notierte Magda später.
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