»Sobald wir zusammen waren, überwältigte mich ein Gefühl der Nähe, fast könnte man sagen: der Identität«, schrieb er später. »Doch plötzlich ergriff mich Panik. Wenn ich so weitermache, sagte ich mir, werde ich ihr gleich meine Liebe gestehen. Ich werde es nicht schaffen, es nicht zu tun. Dabei bin ich nicht bereit. Ich habe noch nicht genug nachgedacht. Ich will mich nicht binden.«
Er blieb stehen. »Es tut mir leid, Mademoiselle«, sagte er leise, »aber ich glaube, es ist besser, wenn ich Sie niemals wiedersehe. Entschuldigen Sie mich.« Nicht einmal zu einem Händedruck blieb er noch stehen. Einige große Schritte, und er war verschwunden.
»Ich habe kein Wort von seinem französischen Gemurmel verstanden«, gestand sie später.
Er hatte sein Studentenzimmer noch nicht erreicht, als er sich von einem Gefühl der Zerrissenheit und der Verzweiflung überwältigt fühlte. Er stürmte in sein Zimmer, setzte sich aufrecht hin, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, sich zu konzentrieren, zu beten. Das Gesicht seines Vaters tauchte vor ihm auf. Wie sollte er ihm je erklären, dass er diese keinesfalls lupenrein protestantische Italienerin heiraten wollte? Geschichten, die man zu Hause bei Tisch erzählte, fielen ihm ein. Von Pfarrern, die ihren Dienst durch die Wahl der falschen Frau ruiniert und ihre Berufung zunichte gemacht hatten. Aber diese Italienerin … War sie nicht unglaublich idealistisch, hilfsbereit, großzügig …?
Und ich lasse sie allein im Dunkeln zum International House laufen!, durchfuhr es ihn. Ich ungehobelter Trottel!
Er sprang auf und lief Richtung Hudson. Natürlich war weit und breit keine Spur mehr von Magda. Sicher war sie längst zu Hause. Im großen Saal des International House brannten die Lichter. Freitagabends wurde hier getanzt.
»I want to see Miss Grilli«, sagte er der Dame, die neben dem Aufzug saß und darüber wachte, dass kein männliches Wesen das Stockwerk mit den Mädchenschlafsälen erreichte.
»It is impossible, Sir. You know the rules.«
Er wandte sich um und stand Elizabeth gegenüber, der meistumschwärmten Studentin des Hauses. Sie musterte ihn streng.
»Sie sind es also«, sagte sie knapp.
»Ja. – Aber wo ist Miss Grilli? Ist sie zurückgekommen?«
»Natürlich ist sie zurückgekommen. Aber in Tränen aufgelöst. Was haben Sie ihr getan?«
»Könnten Sie sie vielleicht bitten, herunterzukommen?«
Und dann stand Magda vor ihm.
»Sie haben also an mich gedacht?«, fragte André vorsichtig.
Sie nickte stumm.
»Ich muss noch nachdenken«, sagte er. »In ein paar Tagen würde ich Sie gern wiedersehen.«
Er setzte sich eine Frist von zwei Tagen. Bis Sonntagabend wollte er in seinem Kopf und in seinem Herzen Ordnung geschaffen haben. Er schloss sich in sein Zimmer ein, nahm ein weißes Blatt Papier, teilte es durch einen Strich in eine rechte und eine linke Hälfte, schrieb »Pro« und »Kontra« über die Spalten, versuchte vergeblich zu beten, ließ es dann sein und füllte die Pro-Spalte in einem Rutsch von oben bis unten.
Am Sonntag, dem 18. April 1926, gleich nach dem Gottesdienst rannte er die Außentreppe zum International House hinauf.
»Was ist los, Troc? Du siehst so zufrieden aus!«, rief ein Student ihm zu.
»Allerdings!«, gab er lachend zurück. »Ich werde mich gleich verloben!«
Keine Sekunde kam ihm der Gedanke, dass die Frau, für die er sich entschieden hatte, etwas anderes als Ja sagen könnte.
Mademoiselle Grilli di Cortona hatte ihn erwartet. Das klassische Kostüm ließ sie noch schmaler wirken als sonst. Sie zog einen hellen Kamelhaarmantel darüber und setzte einen Filzhut auf, der den Kopf wie eine runde Kappe umschloss. Ganz ruhig waren ihre Hände nicht – die große Nadel, die ihren Haarknoten befestigen sollte, stach durch den Filz. Sie lächelte und zuckte dann kurz mit den Schultern. Sie war bereit. Schweigend verließen die beiden das Haus. Schweigend gingen sie zur 125. Straße hinunter. Schweigend setzten sie sich nebeneinander auf eine Bank der Fähre und beobachteten, wie sie dem jenseitigen, schon zu New Jersey gehörigen Ufer näher kamen. Dort, wo heute Hochhäuser auf den Hudson blicken, fanden sie zwischen hohem Gras und struppigen Sträuchern auf einem Felsen ein stilles Plätzchen.
»Wollen Sie meine Frau werden?«, fragte André. »Ich werde protestantischer Pfarrer sein, und ich möchte ein Leben in Armut führen. Ich bin Kriegsdienstverweigerer, und das kann mich ins Gefängnis und in alle möglichen Schwierigkeiten bringen.«
Es war der Tag, an dem sie sich zum dritten Mal sahen.
Sie sagte nicht Ja. Sie sagte auch nicht Nein. Sie begann mit einer Aufzählung aller Dinge, die gegen ihre Verbindung sprachen. Es war eine lange Liste. Sie begann mit schweren Kindheitserfahrungen und endete mit einem Hinweis auf ihre schwache Gesundheit und auf ein unerklärliches Fieber, das sie jeden Abend heimsuche. Als sie mit ihrer Aufzählung fertig war, schwieg sie kurz. Dann sagte sie: »Wenn Sie Ihren Antrag dennoch aufrecht erhalten möchten, werden wir das Weitere sehen.«
Ich dachte, dass sie stark ist, ging es ihm durch den Kopf, aber sie ist schwach. Ich wollte mich auf sie stützen, aber sie wird sich auf mich stützen müssen. Werde ich je genug Stärke für zwei Menschen besitzen?
Aber da saß sie, ehrlich, ernsthaft, schwach, die Frau, die er liebte.
Ja, das ist es, was ich möchte, dachte Magda. Leben und arbeiten mit diesem Mann.
»Et voilà«, notierte sie in ihren Erinnerungen, »von diesem Tag an betrachteten wir uns als verlobt.«
Die Neuigkeit machte die Runde, und im Union Seminary, dem theologischen Seminar, an dem André studierte, wurde gut gelaunt gefeiert. Seiner Familie machte André monatelang keine Mitteilung. So lange, dass Magda glaubte, er stehe nicht zu ihrer Verbindung. Da setzte er sich hin und schrieb seinem Vater einen Brief mit drei Punkten: 1. sei er verlobt, 2. beabsichtige er, in den USA zu heiraten, 3. habe das Paar vor, nach Frankreich zurückzureisen, allerdings auf dem Weg über Indien, und da das Geld für eine solche Weltreise sicher nicht reichen werde, wolle man auf dem Schiff eine Arbeit annehmen.
Die Antwort kam prompt: Frankreich fehle es nicht an Weltenbummlern, Frankreich fehle es an protestantischen Pfarrern, die ihrem Auftrag und ihrer Pflicht nachkämen.
Dass der einundachtzigjährige Monsieur Trocmé glaubte, sein Sohn habe seine »Maitresse« geschwängert und müsse jetzt eilends in den USA heiraten, erfuhr André erst später.
2
Männerwelten, Frauenwelten
FLORENZ UND ROM 1901–1909
Vittorio Emanuele Ferdinando Maria Gennaro di Savoia, genannt Viktor Emanuel III., der König von Italien, war prächtig anzusehen. Die kleine Magda stand vor seinem Abbild in Öl und staunte. Wer neben der Schärpe so viele Sterne, Bänder, Knöpfe, Medaillen und Troddeln trug, war zweifelsohne nicht nur der wichtigste, sondern sicher auch der stärkste Mann von Italien. Und gleich nach ihm kam Papa. Dass die beiden gute Freunde waren, sah man am Schnurrbart und an den Orden. Einen lustigen Bart hatte der König. Seine Spitzen waren nach oben gedreht, so dass sie genau auf die Ohren zeigten. Papas Schnurrbart war kürzer, und seine Ohren standen unter der Mütze auch nicht so ab wie die vom König. Deshalb sah Papa noch besser aus, obwohl er ein paar Orden weniger auf der Brust trug.
»Papa reitet mit seinen Soldaten an unserem Haus vorbei.« In einer ihrer ersten Kindheitserinnerungen steht Magda auf dem Balkon und schaut der Parade zu, die genau vor ihrem Haus entlangführt. Papa sitzt auf einem wunderschönen Pferd. Vor ihm her schreitet das Musikkorps. Papa ist ein Colonel. Magda weiß nicht, was das ist, aber es hört sich so ähnlich an wie colonna , Säule. Papa ist schlank und schön wie eine Säule. Er ist so wichtig, dass er nicht zu Hause wohnen kann. Papa passt nämlich auf das ganze Land auf.
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