Manfred Köhler
Schreckensgletscher - Thriller
Saga
Schreckensgletscher – Thriller Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2007, 2019 Manfred Köhler und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726323269
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Teil: Der Pass
Als es ihr den Lenker quer zur Fahrbahn verdrehte und der Schwung der Abfahrt sie aus dem Sattel hob, da wusste Nelli Prenz, dass dieser Unfall nicht glimpflich ausgehen würde. Ihr Fahrrad war schwer, und die prall gepackten Satteltaschen hingen wie Bleigewichte daran. Bloß nicht darunter begraben werden, dachte sie noch, als sie jenseits der Baumgrenze von der von Geröllfeldern gesäumten Passstraße abkam, da flog sie schon steil bergab und sah das Fahrrad samt Gepäck plötzlich über sich.
Dieser Moment grub sich in ihr Gedächtnis: Nach einem Salto über den Lenker schlug sie auf dem Rücken auf und spürte einen reißenden Schmerz in der Schulter. Sie wehrte das Fahrrad mit Händen und Füßen ab, als es auf sie zustürzte, und stieß es nach unten von sich weg. Sie hörte das Scheppern der Metallteile, ein Klirren in den Taschen und wurde selbst weiter nach unten gerissen, über scharfes Geröll den Abhang hinab. Nach zwei Drehungen seitwärts eine Explosion im Kopf und dann Dunkelheit.
Nelli erwachte, weil ihr die Sonne auf die geschlossenen Augen schien. Wieso habe ich im Freien übernachtet?
Der Sturz!
Mit der Erinnerung kamen die Schmerzen. Das Brennen in der Schulter. Das Stechen im rechten Handgelenk, ein harter, dröhnender, feuriger Schmerz am Handballen. Mit der Rechten hatte sie versucht, den Sturz abzufangen. Und dann? War sie mit dem Kopf aufgeschlagen.
Sie betrachtete ihren Handballen. Dreck und Split steckten in der zerschrammten Haut. Gedankenverloren pulte Nelli die Steinchen aus der Wunde. Wo war das Desinfektionsmittel? In der hinteren Seitentasche der rechten Gepäckträger-Packtasche? Wenn das Fläschchen nur nicht zerbrochen war!
Sie schaffte es in die Hocke, spürte Übelkeit, ließ sich auf den Hintern sinken, hockte am Hang und wartete darauf, dass sich ihr rebellierender Magen beruhigte.
Unter ihr die Straße. War sie nicht von der Straße heruntergerutscht? Dann begriff sie: Klar, das ist eine Serpentine.
Ihr Fahrrad sah sie nicht.
Nelli stand mühsam auf und drehte sich um zum Steilhang. Ein großer Felsen versperrte ihr die Sicht.
Sie zwang sich, alle Schmerzen zu missachten, kletterte um den Steinklotz herum und hinauf.
Dort stand sie wie auf einer Aussichtsplattform und übersah den Verlauf der Serpentine. Felsen, Steine, Geröll, als Kulisse ringsum schroffe Gipfel, aber kein Fahrrad, keine abgerissenen Satteltaschen – war sie so lange und tief bewusstlos gewesen?
»Das gibts doch nicht, verflucht noch mal! Da kommt man ungeschoren durch die South Bronx und die Favelas von Rio, aber an einem menschenleeren Alpenpass klaut mir jemand das Fahrrad samt Gepäck!«
Sie war den Tränen nahe. Bargeld und Mastercard hatte sie zwar noch, sie ertastete den Bauchbeutel unter ihrem Jeansbund und war erleichtert darüber, dass der Dieb ihr nicht an die Wäsche gegangen war.
Aber die Packtaschen steckten voll unersetzlicher Erinnerungsstücke. Ihr Tagebuch war auf 1.000 Seiten mit winzigen Buchstaben voll gekritzelt mit Erlebnissen, Gefühlen, Geheimnissen, mit kleinen Beobachtungen, Zeichnungen, Zitaten, vieles längst vergessen und ohne das Tagebuch für immer verloren. Und das Fahrrad selbst war nicht nur Transportmittel, sondern Heimat und Freund und Rettungsanker. Sie hatte verdammt noch mal auf diesem Fahrrad und mit ihren Schätzen im Gepäck am Ortsschild ihrer Heimatstadt Hof vorbeirollen und zurückkehren wollen und nicht zerlumpt, verdreckt und mit leeren Händen in einem Bus oder Eisenbahnabteil oder gar per Anhalter. Sieben Jahre unterwegs, und in den letzten vier Wochen, fast zu Hause, passierte, was sie immer hatte verhindern können, selbst in Bombay, Mexiko City, in Moskau, in ... ach scheiße!
Sie schrie es hinaus.
Kopfschmerzen, Übelkeit, Schürfwunden, Verzweiflung waren jetzt unwichtig. Sie hatte ihre Reise verloren.
Vor sieben Jahren, vor Beginn dieser Tour, hätte sich Nelli bei einem solchen Verlust irgendwo zusammengerollt und geheult. Und sich dann in ihr Schicksal gefügt.
Die Weltreise-Heimkehrerin Nelli Prenz dachte nicht daran, klein beizugeben. Sie musste zur Polizei. Der Dieb würde mit ihren Sachen nichts anfangen können und sie abstoßen.
Sie tastete sich den Geröllhang hinunter und erreichte die Straße über einen Graben hinweg mit einem Sprung. In ihrem Kopf schepperte es, vor ihren Augen leuchtete ein kleines Gewitter auf, aber der Magen meldete sich nicht.
Sie trottete bergab. Was hatte sie sich gestern bei der Schufterei zum Pass hoch auf die Abfahrt gefreut – und nun also Fußmarsch.
Die dritte Serpentine führte sie aus dem Schatten einer Felswand heraus, und es öffnete sich der Blick ins Tal. Es war von hier oben, in zweieinhalbtausend Metern Höhe, nur als grüner Schimmer im Dunst des Morgennebels zu erahnen.
In greifbarer Nähe, nur zwei Serpentinen weiter, stand ein Unterkunftshaus aus rohen Geröllbrocken, und davor parkten drei Autos.
Das Haus lag wie am Rande eines Tabletts auf einem kleinen Hochplateau zwischen den Serpentinen zum Pass und der Abfahrt ins Tal. Direkt an der Terrasse des Gebäudes endete ein Sessellift, und etwas abseits erstreckte sich ein Flachbau, offenbar ein Garagentrakt mit Werkstatt.
Altes Zollhaus stand auf einem verwitterten Schild neben dem Parkplatz an der Straße. Wären die Autos nicht gewesen, sie hätte das Gebäude samt den Anlagen ringsum für verlassen und geschlossen gehalten.
Die rissige Holztür mit ihrem quer verlaufenden, abgenutzten Griff war angelehnt, und als Nelli sie aufstieß, sah sie kein Schloss. Mit schlechten Menschen rechnete man hier oben offenbar nicht.
Im Flur zur Gaststube hing ein Spiegel. Seit Tagen der erste Spiegel, den Nelli zu sehen bekam. Ihre kurz geraspelten Haare standen nach allen Richtungen ab und waren strähnig, im Gesicht hatte sie einen Dreckschmierer. Den konnte sie mit Spucke beseitigen, aber am blutbefleckten, zerrissenen T-Shirt ließ sich nichts richten. Wie sie wohl riechen mochte? Geduscht hatte sie – vorgestern?
Die Tür der Wirtsstube ging auf. Eine Frau mit blaugeblümtem Seidenrock und trägerlosem Top kam heraus, streifte Nelli mit dem flüchtigen Blick zufälliger Begegnung, betrachtete die verschrammten Knie und die zerrissene, ausgefranste Jeans und wandte sich dann etwas zu rasch der Tür zum Damenklo zu.
Weg war sie, und Nelli ärgerte sich. Die hatte ihr nicht mal in die Augen gesehen! Eine solche Tussi war sie früher selbst gewesen; nicht ganz so überdreht, eine Urlaubsfahrt über Alpenpässe mit der halben Schmuckschatulle behängt, lackierten Fußnägeln und goldenen Sandaletten anzutreten, aber reichlich von sich eingenommen. Nelli war froh, nicht mehr so zu sein – und stellte befremdet fest, dass sie sich trotzdem wegen ihrer äußeren Erscheinung schämte. Am liebsten hätte sie das Unterkunftshaus schnurstracks verlassen. Die Wirtsstube würde voll von Leuten sein, die sie auf den ersten Blick als Pennerin einstuften, Nelli hatte den Gesichtsausdruck während ihrer Tour nur allzu oft gesehen.
Ihr Herz klopfte wie vor einem Schulreferat, als sie die Tür aufdrückte. Die Gaststube war karg eingerichtet. Rohe Natursteinwände, Stroh auf dem Fußboden, Stühle und Tische aus derbem altem Holz, kein Wandschmuck.
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