»Klar. Ich hol bloß schnell den Garagenschlüssel.«
Andi warf dem großen Kerl einen scheuen Blick zu und zog sich zurück.
Nelli atmete auf. Sie packte die Hand des Arbeiters.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ...«
»Schon gut, schon gut. Der Andi ist in Ordnung, der stiehlt bestimmt keine Fahrräder.«
Den drei anderen wurde es sichtlich langweilig, und sie trollten sich zur Tür.
»Wir müssen weiter, Nelli.«
»Alles klar, ich komm mit raus.«
Er hielt ihr die Tür auf.
»Wie spät ist es eigentlich«, fragte Nelli, als sie draußen waren.
»He, weiß jemand, wie spät?«, gab er die Frage weiter.
»Fast eins«, rief einer der Kollegen zurück. Sie waren dabei, sich in einen grauen VW-Transporter zu quetschen.
»Na, dann.«
Der Große mit der Baseballkappe gab Nelli die Hand. Sie ergriff sie mit beiden Händen, drückte und schüttelte sie herzlich. Selten bei ihrer Reise war sie so erleichtert gewesen.
»Noch mal danke.«
Er nickte, stieg auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Nelli sah ihnen nach und winkte, bis der Transporter hinter der ersten Spitzkehre Richtung Pass verschwand.
Lieber wäre es ihr gewesen, die Männer hätten gewartet, bis sie ihr Fahrrad tatsächlich hatte, aber offenbar kannten sie diesen Andi gut und hatten keinerlei Zweifel. »Du spinnst«, sagte sie leise zu sich selbst. Warum sollte ich mein Rad nicht zurückbekommen? Ich hätte es so oder so gekriegt. Die sind eben etwas langsamer hier oben und misstrauischer, aber doch keine Fahrraddiebe. Was sollte dieser Mensch auch damit anfangen? Ihr unersetzlicher Reisebegleiter war für andere nichts als ein zerschrammter Schrotthaufen mit geflickten Taschen, beladen mit alten Klamotten, billigen Vorräten und einem Notizbuch voller Gekritzel.
Sie ließ den Blick über die kahlen Bergrücken und die Geröllfelder schweifen. Kein Strauch, kein Grashalm, nur Steine. Und immer nur eisige Winde, selbst jetzt im Sommer. Hier muss man ja seltsam werden. Nelli fand das Panorama grandios, mochte aber die Kargheit und Kälte nicht. Es zog sie Richtung Tal, ins Grüne, in die Wärme.
Wo er nur schon wieder so lange blieb?
Nelli ging an eines der Fenster zur Gaststube.
»Das gibts doch nicht!«
Sie sah Andi ein Tablett an einem der Tische des Wandervereins abstellen und seelenruhig mit den Gästen plaudern. Auf einmal waren Ungewissheit und leise Angst wieder zurück. Ihre Hände wurden feucht. Verflucht, hätte sie die Arbeiter doch gebeten, auf die Übergabe des Fahrrades zu warten!
Sie schnaufte tief ein, um sich zu beruhigen.
»Okay, ich kann mir selbst helfen.«
Entschlossen ging sie in die Gaststube. Andi war gerade dabei, hinter dem Tresen in die Küche zu verschwinden.
»He, Andi«, rief sie laut, aber sie bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen. »Hast du vergessen, dass ich draußen warte?«
»Ich komme gleich«, erwiderte er genauso freundlich und verdrückte sich in die Küche.
Zurück blieb Gerda, Biergläser am Zapfhahn füllend und grimmig zu ihr herüberstarrend.
Nelli behielt ihr freundliches Gesicht bei, ging zur Theke und beugte sich über den Tresen.
»Jetzt hören Sie mal zu, ich habe das Theater endgültig satt. Wenn Sie ihn nicht auf der Stelle aus der Küche holen, dann ist was los! Ich will endlich mein Fahrrad haben!«
Gerda zapfte seelenruhig zu Ende, stellte das volle Glas auf das Tablett zu den anderen vollen Gläsern, drehte sich um und verschwand in der Küche.
Nelli hasste sich selbst für ihren rüden Ton. Aber sie war auf sich allein gestellt und mittlerweile sicher, dass sie es nicht mit normalen Leuten zu tun hatte. Sie hatte das Gefühl, in Gefahr zu sein, spürte sogar einen Anflug von Panik.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, da steckte Andi den Kopf aus der Küche. Er nickte in Richtung der Wanderfreunde und zog ein gestresstes Gesicht.
»Nelli, du siehst doch. Bisschen Geduld bitte noch.«
»Ich will nur mein Fahrrad.«
»Gleich.«
»Nein, sofort!«
»Die Wanderer sind in Eile, okay!«
»Ich bin auch in Eile!«
»Die sind aber zu Fuß. Die wollen heute noch runter bis ins andere Tal. Und es ist schon nach eins.«
Er deutete kurz auf seine Uhr und machte Anstalten, sich wieder in die Küche zurückzuziehen.
Nelli umrundete so schnell es ging die Theke und erwischte ihn am Hemdsärmel.
»Hiergeblieben, Freundchen, du gibst mir jetzt den Schlüssel!«
»Was?!«
»Den Schlüssel für die Garage.«
Sie zog mit der linken Hand ihren Umhängegeldbeutel unter dem T-Shirt hervor, während sie mit der rechten fest seinen Hemdsärmel umklammert hielt.
»Hier, mein ganzes Geld und meine Papiere als Pfand. Ich bin in einer Minute wieder da.«
Andi spähte nervös zu den Wanderern, die herübersahen und tuschelten.
»Na los!«
Widerwillig kramte er aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund hervor und gab ihn ihr. Nelli legte ihr Mäppchen auf die Theke, ließ seinen Ärmel los und drehte sich wortlos zur Tür.
Sie hatte gesiegt. Ein unnötiger Kampf war das gewesen, und sie verstand die Motive für Andis Verzögerungstaktik nicht, aber das war jetzt egal. Schnellstmöglich weg von hier, das war jetzt das Wichtigste. Bloß nicht bis zum Abend hier herumhängen und womöglich bei diesem bekloppten Pärchen übernachten müssen.
Sie riss die Tür der Gaststube auf, war mit drei Schritten durch den Flur an der Haustür und rannte über den leeren Parkplatz zu den Garagen. Hoffentlich war das Fahrrad nicht beschädigt!
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