»Inzwischen wäre aus diesem Blickwinkel gar nichts mehr zu sehen«, hörte sie hinter sich eine Stimme. Sie fuhr herum.
»Was?«
Andi stellte einen großen Teller mit Wurst- und Käsebroten auf ihren Platz, daneben eine Apfelschorle in einem Halbliter-Bierglas und deutete mit dem Kopf zu den Fotos.
»Der Gletscherschwund. Es geht von Jahr zu Jahr schneller.«
»Ach so. Dann ist er wohl bald ganz weg?«
»An dieser Stelle schon. Weiter oben, etwa auf unserer Höhe hier und darüber, ist er immer noch ziemlich eindrucksvoll. Solltest du dir mal ansehen.«
»Vielleicht, wenn ich mein Fahrrad wieder habe. Du hast gesagt, du hilfst mir suchen.«
»Später, Nelli, später.«
Er hatte sich schon von ihr abgewandt und stellte kleinere Teller mit belegten Broten vor gerümpften Schülernasen ab.
»Käse, ih«, nörgelte einer, »und nicht mal Brötchen. Warum gibts in dieser blöden Hütte keine Pommes?«
»Weil wir hier keinen Strom haben und deshalb auch keine Fritteuse, klar«, sagte Andi, ohne den Schüler anzuschauen. Und schon war er am nächsten Tisch.
Kein Strom, das kann doch nicht sein, dachte sich Nelli. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es tatsächlich keine Deckenlampen gab. Auf den Tischen standen in altertümlichen Haltern weiße Wachskerzen, daneben lagen Streichhölzer.
Nelli machte sich über die Brote her. Sie zwang sich, den Aufenthalt hier als eine Station von vielen zu betrachten. Sie würde ihre Sachen wiederbekommen. Warum sich also aufregen und damit diesen Reisemoment verderben und sich entgehen lassen? In ihrem geplanten Buch und in dem Vortrag über die Reise, mit dem sie einmal durch die Lande ziehen würde, bekäme dieser Ort seine Erwähnung. Gut möglich, dass es der Höhepunkt wäre. Vielleicht würde sie noch froh sein, dass ihr der Unfall passiert war, wenn sie nach überstandener Ungewissheit und aus der Distanz heraus davon berichten und ihre Leser und Zuhörer damit in Atem halten würde: wie es war, im Polizeigriff dieser Gerda gefangen zu sein und wie eine Verbrecherin angestarrt zu werden; die Ungewissheit, wo ihr Fahrrad sein mochte und ob sie es je wiederbekäme; und dann, hoffentlich, die Erleichterung, es tatsächlich zu finden und die Tour fortzusetzen.
Nelli schluckte den letzten Bissen hinunter, trank ihr Glas leer und fühlte sich startbereit. Sie wartete ein paar Minuten und noch ein paar. Andi steckte in der Küche.
»Zahlen, bitte.«
Na endlich, die Klasse war im Aufbruch. Doch es kam nicht Andi zum Kassieren, sondern Gerda.
Nelli wurde es zu dumm. Sie stand auf, stellte sich demonstrativ an die Theke und sah von dort aus zu, wie die Schüler sich trollten. Zuletzt verließ der Lehrer den Raum und bemühte sich krampfhaft, nicht noch einmal zu Nelli hinzusehen. Gerda räumte ab und säuberte die Tische.
»Würden Sie Andi bitte sagen, dass ich auch zahlen möchte«, sagte Nelli bemüht freundlich, als sie mit einem Stapel Teller und Besteck an ihr vorbeiwatschelte.
»Ich komm gleich.«
»Nicht Sie, ich brauche Andi.«
Gerda verschwand in der Küche. Nelli spürte ihre Ungeduld in Zorn umschlagen. Sie war allein mit vier jungen Kerlen, die Bier zu ihren Broten tranken, derbe Witze rissen und von ihrer Kluft her Straßenbauarbeiter sein mochten. Von denen wollte sie sich nicht unbedingt mitnehmen lassen. Nelli sah von der Theke durchs Fenster aus zu, wie die Schulklasse vom Bus aufgesogen wurde, zuletzt der Lehrer einstieg, ein Zittern durch den Bus ging, als der Motor ansprang, während die Tür noch offen stand, der Auspuff eine schwarze Qualmwolke ausstieß.
Die offene Tür. Gleich wird sie geschlossen sein.
Nelli hatte den Impuls, hinauszuspurten und in den Bus zu springen. Ihre letzte Chance!
Unfug!
»Zahlen«, brüllte einer der Arbeiter. Es dauerte keine zehn Sekunden, da tauchte Gerda auf.
Die Bustür schloss sich.
Gerda kam hinter der Theke vor und zückte den Geldbeutel.
Der Bus bog auf die Straße ein und verschwand aus Nellis Blickfeld.
Die Männer bezahlten reihum, zeigten sich großzügig mit dem Trinkgeld und standen unter mächtigem Stühle- und Tischerücken, Grölen und Lachen auf. Einer rülpste demonstrativ laut.
Gerda steckte den Geldbeutel ein und schaute Nelli dabei mit einem Blick an, der sagte: An unser Geld kommst du nicht ran.
»Was ist denn nun?«, fragte Nelli, als sie an ihr vorbei hinter die Theke ging.
»Was denn?«
»Na, haben Sie Ihrem Chef gesagt, dass ich auf ihn warte?«
»Schon.«
»Und, wo ist er?«
»Der kann grad nicht.«
»Also, das ist doch.«
Nelli schüttelte den Kopf und wollte hinter die Theke und in die Küche gehen.
Mit einem Schritt versperrte Gerda ihr den Weg.
»Ich kann wirklich nicht länger warten.«
»Dann gehen Sie halt.«
»Ich brauche aber mein Fahrrad!«
»Ich weiß nichts von einem Fahrrad.«
»Andi!«, schrie Nelli so laut sie konnte aus unmittelbarer Nähe in Gerdas Gesicht. »Kommst du bitte mal, ich muss weiter.«
Gerda blieb ungerührt.
Nelli wartete.
Keine Antwort.
»Ach, verdammt.«
Sie machte kehrt, ging an den Bauarbeitern vorbei zur Tür und verließ die Gaststube.
Wahrscheinlich war Andi wieder hinten beim Lift.
»He, Fräulein!«
Nelli fühlte sich nicht angesprochen, aber drehte sich trotzdem um.
Die vier Männer kamen hinter ihr aus der Gaststube.
»Haben Sie Ärger?«
Der gesprochen hatte war ein großer Kerl mit Baseballkappe, die er auch beim Essen aufbehalten hatte, und weit aufgeknöpftem Hemd. Er sah eigentlich ganz nett aus. Trotzdem, was die da drin vom Stapel gelassen hatten, machte die vier auch bei ernster Miene und scheinbar unvoreingenommenem Interesse nicht vertrauenerweckend. Nelli ließ sich von ihnen einholen und umringen.
»Können wir helfen, Fräulein, äh ...?«, fragte der Große noch einmal.
»Nelli. Ich weiß nicht, vielleicht.«
»Probleme mit Gerda?«
»Eigentlich nicht, nicht direkt. Ich bin vom Fahrrad gestürzt, oben am Pass.«
Die Haustür ging auf, und ein älterer Mann mit Wanderhut, Kniebundhosen und plakettenverziertem Stock kam herein, gefolgt von einem weiteren Wanderfreund und noch einem. Nelli und die vier Arbeiter wichen in Richtung Toiletten aus, um Platz zu machen. Kaum war die Haustür ins Schloss gefallen, wurde sie wieder aufgestoßen und weitere Männer mit Wanderhüten und karierten Hemden und Rucksäcken drängten herein. Schon wieder ein Bus, offenbar.
»Und, was haben die Hüttenleute mit dem Unfall zu tun?«, fragte ein anderer Arbeiter, der ein ausgeleiertes blassgraues T-Shirt zur geflickten Jeans trug.
»Nichts. Ich weiß nicht, ich hab sie ja erst vorhin kennengelernt. Mein Fahrrad ist verschwunden, das ist das Problem.«
»Und was sollte das eben mit Gerda?«
»Die kann mich bloß nicht leiden. Ich hab da ein Fahrrad nebenan in den Garagen gesehen, das aussieht wie meines, und dieser Andi ...«
Abrupt ging eine Tür hinter Nelli auf. Sie sah aus wie eine der Klotüren, aber statt der Buchstaben H und D trug sie die Aufschrift ›Privat‹. Andi steckte den Kopf heraus.
»He, Leute, was gibts?«
»Nelli vermisst ihr Fahrrad«, antwortete der Große mit der Baseballkappe.
»Hat sie mir auch erzählt.«
»Und?«
»Könnte schon ihres sein, das in der Garage. Ich habs heute früh herrenlos auf der Straße liegen sehen und wollte es aufbewahren.«
Nelli spürte den Impuls, ihm eine zu kleben.
»Hier liegen wohl ständig herrenlose Fahrräder auf der Straße?«, fragte sie stattdessen. »Außerdem lag ich gleich daneben.«
»Ich habe nur das Fahrrad gesehen. Tut mir leid, ich wollte bloß helfen.«
»Schon gut Andi, dann kannst du es ihr ja jetzt geben.«
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