»Hehehe!«, brüllte die Bedienung unmittelbar hinter ihr. Nelli wurde am Arm gepackt und herumgerissen.
»Also wie hammers denn, sofort raus da!«
Nelli wollte sich aus dem Griff befreien, aber die stämmige Person hielt sie eisern fest und zog sie mit Gewalt durch die Tür zurück in die Wirtsstube.
Auf einmal war es ruhig, alle Kinder und der Lehrer starrten in ihre Richtung, und Nelli stieg Schamesröte ins Gesicht.
»Ich hatte nicht die Absicht«, setzte sie an.
»Sie haben gar nix außer Hausverbot, schauns, dass hier rauskommen, Sie abgerissenes Luder!«
Ihr Arm steckte wie in einem Schraubstock. Nelli stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Griff, aber das führte nur dazu, dass ihr die Bedienung den Arm auf den Rücken drehte und sie brutal zum Ausgang stieß.
»Die wollte vorhin in die Werkstatt einbrechen und die Harley klauen!«, rief einer der Jungs aus der Anonymität der Klasse heraus. Nelli erkannte ihn an der Stimme als den kleineren der beiden Neugierigen.
»Ah, so ist das!«
»Ich will sofort mit Andi sprechen!«
»Sie plaudern höchstens mit der Gendarmerie.«
Die Bedienung schaffte es spielend, mit der einen Hand die Tür zu öffnen, während sie mit der anderen Nelli unvermindert brutal im Polizeigriff hielt. Das wars dann mit der Mitfahrgelegenheit im Bus, dachte Nelli lakonisch, während sie kurz Augenkontakt mit dem Lehrer hatte. Sein Blick verriet, wie die Gesichter der Kinder, gleichermaßen Abscheu und Faszination.
»Sie wollen doch nicht wirklich die Polizei rufen«, spielte Nelli die Entsetzte, während sie auf die Haustür zugestoßen wurde.
»Und ob!«
»Haben Sie also ... Aua, nicht so brutal, verdammt noch mal! Haben Sie etwa ...«
Ein heftiger Stoß, ihr Arm war frei, Nelli taumelte ins Freie und wäre fast gestürzt. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie die Bedienung die Tür hinter ihr schloss.
»Haben Sie etwa doch ein Telefon hier oben?«, schrie sie ihr hinterher.
Aber die Tür war schon zu. An den Fenstern hing die halbe Schulklasse. Nelli sah erstaunte, fassungslose und auch schadenfrohe und belustigte Gesichter. Also wirklich, das war mit Abstand der beschissenste Tag der ganzen siebenjährigen Reise.
Wenn sie nur gekonnt hätte, Nelli wäre auf ihr Fahrrad gestiegen und hätte die Räder laufen lassen. Aber sie saß fest. Sie stand auf der Freifläche zwischen Busparkplatz und Haus und wusste nicht, was sie tun sollte.
Inzwischen musste es auf Mittag zugehen. Ihre Tagesetappe konnte sie endgültig abschreiben. Wut auf den Dieb kam in ihr hoch, eine Scheißwut auf die gemeine Hinterhältigkeit, eine bewusstlose, verletzte Frau zu bestehlen, rasende Wut auf den völlig unnötigen Sturz, diese Verkettung von Zufällen, die sich nun zum größten Hindernis der ganzen Reise auswuchsen.
Löse das Problem, sagte sie sich, um zur Ruhe zu kommen, aber verflucht noch mal, Ruhe war jetzt fehl am Platz! Jetzt kam es darauf an zu handeln.
Wo war Andi wohl, wenn nicht in der Küche?
Der Brotbelag schien ausgegangen zu sein. Und woher kam der Nachschub?
Über den Lift!
Nelli stürmte los und umrundete das Haus. Der Hinterausgang war angelehnt, und an der Liftstation 20 Meter gegenüber tat sich etwas, sie hörte Rumoren, und die Doppelsessel schaukelten leicht. Volltreffer!
Als sie kurz vor der Station angelangt war, kam Andi mit einer Holzkiste in den Händen heraus. Als er Nelli sah, lächelte er, und ihre Wut löste sich in Luft auf.
»Tut mir leid, du wartest auf dein Essen«, rief er ihr entgegen, »aber mir ist diese Schulklasse dazwischengekommen, und dann sind mir auch noch Wurst und Käse ausgegangen.«
»Und da hast du schnell mal im Tal angerufen und nachbestellt.«
Sein Lächeln gefror.
»Nein. Die Lieferung wird immer in der Früh hochgeschickt. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, die Kiste in die Küche rüberzuholen.«
Nebeneinander gingen sie vom Lift zur Hinterseite des Gasthauses.
»Funktioniert der Lift von hier aus?«
»Nein, der Antrieb ist im Tal. Hier oben ist nur eine Umlaufrolle ohne Motor.«
»Aha. Übrigens, deine Schlammcatcherin von Thekenkraft hat mich aus dem Haus geworfen und mir dabei fast den Arm ausgekugelt.«
»Was?«
»Ja, weil ich in der Küche nach dir schauen wollte. Und dabei hat sie gedroht, die Polizei zu rufen.«
»Ich rede gleich mal mit ihr.«
»Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr keinerlei Verbindung ins Tal habt. Und zweitens ...«
Sie erreichten den Hintereingang.
»Würdest du bitte mal ...«
Sie hielt ihm die Tür auf.
»Und zweitens habe ich in der Garage oder Werkstatt oder was das ist ein Fahrrad gesehen. Es sieht aus wie meines.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
Durch einen kreuz und quer mit Kartons, Flaschen, Kästen und Dosen voll gestellten Gang erreichten sie die Küche. Nelli hielt wieder die Tür auf.
»Ich dachte«, keuchte er, »du hattest einen Unfall.«
»Ja, einen Fahrradunfall.«
»Da legst dich nieder!«
In der Tür zur Gaststube stand die Bedienung und starrte Nelli und Andi mit einer Mischung aus Empörung und Verständnislosigkeit an.
»Schon gut, Gerda, die ist in Ordnung.«
Die Thekenkraft glotzte weiterhin böse und hielt Nelli mit ihrem Blick in Schach.
»Wir kennen uns von früher, alles klar?«
»Ah, so ist das.«
Nicht gerade weniger finster dreinschauend, aber offenbar beruhigt, trollte sich Gerda nach vorne in die Wirtsstube.
»Wir kennen uns von früher?«, fragte Nelli.
»Sonst hätte sie keine Ruhe gegeben. Du musst ja ganz schön mit ihr aneinander geraten sein ...«
Er grinste, und Nelli konnte nicht anders als zu lächeln. »Weißt du, das Ordnungsamt schaut zwar eher selten hier oben bei uns vorbei, aber du solltest wirklich nicht in der Küche sein.«
»Schon klar. Aber ...«
»Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Den ersten Brotzeitteller bekommst du, und sobald die Klasse draußen ist, schauen wir nach deinem Fahrrad. Ist das ein Wort?«
Nelli nickte lächelnd.
»Alles klar.«
Sie ging zur Schwenktür und bekam sie fast auf die Nase, als Gerda hereinstürmte.
»Noch vier Kästeller mehr, der Bautrupp ist da.«
Nelli schob sich an ihr vorbei zum Thekenbereich und ging in die Gaststube. Sofort zuckten alle Köpfe zu ihr, und das Kindergeschrei verstummte zu einem vielstimmigen Tuscheln.
Sie tat so, als sei nichts gewesen, und suchte sich einen Platz ganz hinten auf der Eckbank. Einige Schüler rückten fluchtartig zusammen, und Nelli sah dem Lehrer an, dass er nicht recht wusste, wie er sich nun verhalten sollte.
Pfeif drauf, sollten sie doch denken, was sie wollten.
Sie hatte einen Bärenhunger, wollte nur essen und dann weiter. Ihr Fahrrad zurückhaben. Nachsehen, ob noch alle ihre Sachen da waren, vor allem ihr Tagebuch. Sie würde eine Menge aufzuschreiben haben, wenn sie es je wiederbekäme.
»Schauen wir nach deinem Fahrrad«, hatte Andi gesagt. War das Fahrrad in der Garage also tatsächlich ihres? Oder hatte er gemeint, er würde ihr bei der Suche behilflich sein?
Nelli fielen die Bilder ein. Vorhin hatte sie die gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien hinter der Familie hängen sehen, jetzt saß sie selbst schräg darunter.
Sie stand auf und betrachtete die Bilder.
Es handelte sich um ein- und dasselbe Motiv, vom selben Standort nur zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen. 1902 stand unter der linken Fotografie, 2002 unter der rechten. Zu erkennen war ein Gebirgsmassiv, das ihr bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte sie es vom Pass aus in einem anderen Blickwinkel gesehen. Dahinter erstreckte sich auf dem linken Bild ein ungeheurer Gletscher. Schwer zu schätzen, aber er mochte mindestens 100 Meter breit gewesen sein. Auf dem rechten Foto war er zu einem Rinnsaal zusammengeschmolzen, und die ehemalige Ausbreitungszone glich einer trüben Kiesgrube.
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