Nelli bahnte sich einen Weg durch das Kindergewusel, um die beiden abzufangen.
»Das geht auch leiser, Leute, und bitte ohne Revierkämpfe«, hörte sie eine Stimme schräg gegenüber. Das war wohl der Lehrer, ein bärtiger Typ mit Windjacke, dessen Ermahnungen überhaupt nichts nützten, was ihn nicht zu kümmern schien.
Das Pärchen wollte sich an Nelli vorbei zur Tür verdrücken. Sie schnitt ihnen den Weg ab.
»Ich möchte Sie was fragen, bitte.«
Der Mann deutete zu seinem Ohr und zuckte die Schulter, Nelli zeigte zum Ausgang. Gemeinsam verließen sie die Wirtsstube und schlossen die Tür von außen.
»Fahren Sie in Richtung Tal oder hoch zum Pass?«
»Wir können leider keine Anhalter mitnehmen«, antwortete der Mann knapp.
Nelli presste die Lippen zusammen, verschränkte hastig die Arme und nickte.
»Hab ich mir schon gedacht.«
»Nein, verstehen Sie uns nicht falsch ...«
»Wir haben nämlich nur einen Zweisitzer«, mischte sich die Frau ein und legte Nelli ihre warme Hand auf die verschränkten Unterarme. Sie lächelte, und Nelli stellte verblüfft fest, dass die Geste und das Lächeln anteilnehmend waren.
»Hatten Sie einen Unfall?«, fragte die Frau, legte Nelli jetzt die Hand auf den Rücken und führte sie so aus dem Vorraum hinaus auf den Platz vorm Haus.
»Ich bin oben am Pass mit dem Fahrrad gestürzt und war bewusstlos. Als ich aufgewacht bin, waren meine Sachen verschwunden.«
»Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte der Mann.
»Nein, der Wirt sagt, er hat kein Telefon.«
»Warten Sie mal. Ich glaube zwar nicht, dass ich hier ...«
Der Mann zog ein Handy aus einer Jacketttasche und drückte eine Kurzwahltaste. Er hielt sich das winzige Telefon ans Ohr, lauschte und schüttelte dann den Kopf.
»Hab ich mir schon gedacht. Kein Netz hier oben.«
»Wir können Sie zwar wirklich nicht mitnehmen, sehen Sie ...«
Die Frau deutete zu einem kleinen blauen Sportwagen ohne Rückbank, der hinter dem Reisebus stand.
»... aber wir könnten unten die Polizei rufen, wenn das Handy wieder geht.«
»Vielleicht ist im Bus noch ein Platz«, mischte der Mann sich ein.
»Ich weiß nur nicht, auf welcher Seite der Grenze mein Fahrrad sein könnte.«
»Ich glaube, das spielt keine Rolle.«
»Wieso?«
»Na ja, also ...«, druckste der Mann. Er kratzte sich am Kopf.
»Ich glaube, Ihr Fahrrad und Ihre Sachen können Sie sowieso abschreiben.«
Die Frau nickte.
»Uns ist an der Côte d’Azur mal das Auto gestohlen worden, wissen Sie. Die Polizei fand nur noch die Karosserie, und die war zuschanden gefahren.«
»Aber, wenn Sie Geld brauchen.«
»Nein, nein.«
Nelli schüttelte den Kopf und lächelte.
»Geld ist nicht das Problem. Aber vielen Dank. Sie beide sind sehr nett.«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Der Busfahrer hilft Ihnen bestimmt«, sagte die Frau. Nelli sah ihr nach, wie sie mit wehendem Rock zum Auto ging und einstieg. Der Mann ließ den Motor an und gab Gas, sodass die Reifen auf dem Splitt durchdrehten. Die beiden winkten und verschwanden hinter der nächsten Kurve. Nelli hatte das Gefühl, zwei Freunde zu verlieren.
Sie riss sich los und suchte nach dem Busfahrer. Ins Haus war er nicht gegangen. Nelli umrundete den Bus und sah einen Mann übers Lenkrad gebeugt. Er blätterte in einer Zeitschrift und ließ sich ein Wurstbrot schmecken. Die Türen waren geschlossen. Eben wollte sie sich bemerkbar machen, da fiel ihr schräg neben sich an dem Garagen-Flachbau eine Bewegung auf. Zwei Jungs, die offenbar zur Schulklasse gehörten, hantierten an einem der Tore.
Nelli beschloss, den Busfahrer nicht zu stören. Er würde bereitwilliger sein, wenn er seine Pause in Ruhe beenden konnte. Mal sehen, was da drüben bei den Jungs los war.
Die beiden klebten an der Drahtglasscheibe des Garagen-Falttores und starrten nach innen. Nelli schnappte Wortfetzen eines Streits auf:
»Das ist eine Harley!«
»Nein, eine BMW, ganz sicher.«
»Quatsch, dann wäre der Lenker nicht so hoch.«
»Na, was gibts denn da zu sehen?«, fragte Nelli, als sie auf einige Meter heran war. Die Jungs erschraken und zogen sich von der Scheibe zurück.
»Keine Angst, ich bin auch nur neugierig.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Nelli. Müsstet ihr nicht drin bei den anderen sein?«
»Schon, wir gehen auch gleich.«
»Was habt ihr denn da entdeckt?«
»Och, da steht ein Motorrad. Könnte eine Oldtimer-Rennmaschine sein, so wie die Reifen aussehen ...«
Nelli lächelte und beugte sich zum Fenster.
»Mal gucken.«
In der Werkstatt stand ein Zweirad, aber durch die Drahtglasscheibe war kaum mehr zu erkennen als die grobe Form.
»Und, wissen Sie, was das für eine Marke ist?«
»Tja, keine Ahnung, ich kenne mich da sowieso nicht so aus.«
Nelli starrte unverwandt durch die Scheibe und die Jungs drängten sich jetzt um sie und reckten sich.
»Sehen Sie sonst noch irgendwas Besonderes.«
»Nein. Sieht so aus, als stünde ganz hinten noch ein Laster ...«
»Ob wir da mal rein können und genauer gucken?«
»Ich glaube nicht, weil ...«
Nelli erstarrte.
»Was, weil? Haben Sie was entdeckt?«
»Man kann nicht einfach in fremde Häuser gehen«, sagte Nelli mechanisch. Ihr Herz klopfte hart. Im hinteren Teil der Werkstatt, dort, wo sie einen Lastwagen erkannt zu haben glaubte, sah sie die Hälfte eines Fahrrad-Hinterrades mit schwarzen Packtaschen über dem Gepäckträger. Und diese Taschen – sahen aus wie ihre.
Das war ihr Fahrrad!
Unmöglich, wie sollte das da hineinkommen?
Nelli streckte sich, suchte ein Fenster, fand eines, drückte sich daran die Nase platt, aber von hier aus war das Fahrrad noch schlechter zu erkennen.
»Was haben Sie denn?«
Jetzt wollte sie es aber genau wissen. Sie ging zum Werkstatt-Tor, drückte die Klinke. Zugesperrt.
»Haben Sie nicht gesagt, man darf nicht einfach in fremde Häuser?«
Die Junges hingen wie Kletten an ihr.
»Nicht einfach so«, antwortete Nelli.
»Aber?«
»Ich will bloß was gucken.«
Sie drückte gegen die Fenster. Alles fest verschlossen.
Jede Werkstatt hatte einen Hintereingang, oder? Nelli umrundete das Gebäude, fand tatsächlich eine Eisentür – ebenfalls versperrt.
»Mist!«
»Was ist denn?«
»Kommt, wir gehen mal rein zu eurer Klasse.«
Die Jungs im Schlepptau marschierte Nelli mit großen Schritten zurück zum Haus. Die Familie, die sich den Weg hatte erklären lassen, stieg gerade in ihren Kombi. Das Auto war beladen bis unters Dach und mit den fünf Personen voll besetzt.
Nelli ließ die Jungs an sich vorbei ins Haus und in die Gaststube, folgte ihnen und schloss die Tür. Am Tresen hantierte eine stämmige Frau.
»Entschuldigung.«
»Bittschön?«
Die Frau füllte Apfelschorle in Cola-Gläser, die auf einem runden roten Tablett angeordnet waren.
»Da hat doch vorhin ein Mann bedient, so ein langhaariger ...«
»Der Chef? Der ist in der Küche und macht die Brotzeit für die Klasse.«
»Könnten Sie ihn bitte mal schnell holen?«
»Das ist jetzt grad ganz schlecht. Worum gehts denn?«
»Die Garage nebenan, gehört die zum Wirtshaus?«
»Schon.«
»Und das Motorrad und das Fahrrad darin.«
»Das müsstens den Chef fragen. Nehmens doch so lang Platz.«
Sie hob das Tablett und balancierte damit hinter den Tresen hervor in die Gaststube.
Nelli blieb stehen, wo sie war, und versuchte einen Blick in die Küche zu erhaschen. Die Tür war angelehnt. Die Bedienung stellte Gläser von ihrem Tablett auf die Tische und stand mit dem Rücken zum Tresen.
Kurz entschlossen ging Nelli nach hinten zu der Tür, stieß sie auf und drückte sich in die Küche. Sie sah Tabletts mit Wurst- und Käsebroten, drei Teller mit unbelegten Broten, leere Wurst- und Käseverpackungen – aber keinen Andi.
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