Desweiteren herrscht eine große Unsicherheit über den Prozess der Leitung des Gottesdienstes selbst vor. Wie leitet man Menschen zu dem Punkt, wo Gott ihnen dient? Wie führt man sie dahin, dass sie selbst beginnen, Gott zu dienen? Wie wird der reguläre Gottesdienst einer regulären Kirchengemeinde zu einem missionalen Ereignis? Mit einer bloßen religiösen Veranstaltung eines wie auch immer gearteten liturgischen Zuschnitts kommt man hier nicht weiter. Es gilt daher beides zu klären, das Wesen des Gottesdienstes selbst und die Prinzipien gottesdienstlicher Leitung.
Wie gesagt, ich komme aus der gottesdienstlichen Praxis und nichts liegt mir näher als der Wunsch, dass diese Praxis in vielen Gemeinden grundsätzlich erneuert wird. Dass dies möglich ist, beweisen nicht nur die vielen Bücher, die im Laufe der letzten Jahre zu diesem Thema geschrieben wurden, 2sondern auch die überaus ermutigenden Erfahrungen aus Gemeinden, die durch einen solchen Prozess der Erneuerung gegangen sind. Aus diesen Erfahrungen schöpfe ich die Motivation und Kraft für dieses Buch.
Vieles davon kommt im Zeugnis jener jungen Dame zum Ausdruck, die eines Tages nach dem Gottesdienst in unserer Gemeinde auf mich zu kam und sagte:
„Heute hat Gott zu mir geredet. Guck nicht so komisch, ich meine das ernst – Gott war heute hier. Ich habe ihn erfahren.“
„Aber Gott ist doch immer hier im Gottesdienst“, entgegnete ich vorsichtig.
„Kann schon sein, Pastor, kann schon sein. Ich habe ihn jedenfalls noch in keinem Gottesdienst erfahren. Heute, hier bei euch, ist das zum ersten Mal passiert. Und glaub’ mir, ich gehe seit meiner frühen Kindheit zu Kirche. Das hier war anders.“
Das, was für die junge Frau anders war und was ihr die Begegnung mit dem lebendigen und ewigen Gott ermöglicht hat, darüber will ich schreiben.
„Stell dir vor, es ist Gottesdienst und alle wollen hin“ – das ist die Vision, die diesem Buch zugrunde liegt.
Kapitel 1
Gottesdienst – und keiner geht hin
1.1 Das Ende einer kirchlichen Tradition?
Seit Jahren wird über den evangelischen Gottesdienst lamentiert. Immer weniger besuchen die sonntäglichen Veranstaltungen der Kirchen und Gemeinden. Betroffen sind Landeskirchen und Freikirchen. Die Situation in den Großstädten vermag die Lage anschaulich zu verdeutlichen. Ein Dutzend Gottesdienstbesucher verlieren sich im gewaltigen Schiff einer zentralen evangelischen Kirche in Hamburg-Altona. Und in den meisten Baptistengemeinden der Stadt erscheint weniger als die Hälfte ihrer Mitglieder zum Gottesdienst.
Hamburg ist bei weitem keine Ausnahme. Nicht viel anders sieht es in Berlin aus oder in Frankfurt und München, Zürich oder Wien. Die Situation ist prekär. Die EKD zeigt in ihrer regelmäßig erhobenen Mitgliederbefragung (4. KMU), dass 15 Prozent ihrer Mitglieder nie einen Gottesdienst besuchen, 27 Prozent einmal im Jahr oder seltener, 35 Prozent mehrmals im Jahr (in der Regel nur zu „Pflichtveranstaltungen“ der Kirche). Damit besuchen 77 Prozent der Mitglieder faktisch nie einen Gottesdienst. Mitglieder, die jeden Sonntag einen kirchlichen Gottesdienst besuchen, machen laut KMU gerade noch zehn Prozent aus. 3Wobei man realistischerweise eher von fünf Prozent ausgehen müsste, wie die Studie von Beck zeigt (Beck 2007:46). Und auch hier sind es in der Regel eher ältere Menschen, die sich in die Kirche wagen.
Nach einer gezielten Untersuchung der Altersstruktur der Gottesdienstbesucher in 123 zufällig ausgewählten evangelischen Gottesdiensten, die die Arbeitsgruppe „Kirche für Morgen“ am 19. Oktober 2003 durchführte, sind 47,6 Prozent der Besucher über 60 Jahre alt; 28,2 Prozent zwischen 40 und 60; 17,9 Prozent 20 bis 40 und nur 6,4 Prozent unter 20 Jahre alt. Das Ergebnis der Befragung ließ die Arbeitsgruppe zu dem Schluss kommen, dass wir es mit einer „Seniorenkirche“ zu tun haben (:86ff).
Ist die traditionelle Kirche dabei, sich von der Bühne zu stehlen? Altbischof Theo Sorg hat sich jedenfalls bereits 1977 tief besorgt über den Besucherschwund kirchlicher Veranstaltungen geäußert (Sorg 1977:62). Zehn Jahre später wiederholte er seine Sorge mit gleicher Vehemenz (1987:56). Andere bestätigen seine Befürchtungen. 4Heute ist die Lage nicht viel anders.
Warum besuchen die Menschen keinen Gottesdienst mehr, obwohl sie sich nachweislich zur Kirche zählen? Liegt es daran, dass Menschen ihr Interesse für Glaubensfragen verloren haben, oder eher an der Art und Weise, wie der kirchliche Gottesdienst abläuft? Kann es sein, dass die Krise in der sich der Gottesdienst heute befindet, hausgemacht ist? Kann es sein, dass die Gestalt des typischen traditionellen Gottesdienstes wesentlich dazu beiträgt, dass Menschen sich hier nicht mehr wiederfinden? Oder, noch tiefer gefragt, kann es sein, dass der Gottesdienst sich wesensmäßig so stark verändert hat, dass derjenige, der darin seinen Dienst anbieten soll, Gott selbst, sich aus dem Gottesdienst zurückgezogen hat? Wenn der Gottesdienst der bevorzugte Ort ist, „an dem wir unsere Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen“ (Kuen 1998:1), dann ist doch folgende Frage angebracht: Was ist an diesem Ort der Begegnung aus dem Ruder gelaufen, dass ausgerechnet eine gewollte Liebesbegegnung nicht mehr stattfindet? Oder ist etwa eine solche Begegnung gar nicht mehr im Blick? Es bedarf keiner besonderen Kunst, um festzustellen, dass die meisten Gottesdienste heute mit Gott selbst nur noch am Rande zu tun haben. Für viele Gottesdienstbesucher ist der traditionelle Gottesdienst in erster Linie ein Kasualiengottesdienst. Man geht hin, weil es gesellschaftlich angebracht erscheint, an bestimmten Passagen der eigenen Biografie gottesdienstliche Begleitung zu erfahren. Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung stehen hier hoch im Kurs. Dazu kommen unerwartete Lebenserfahrungen und Stresssituationen, die einen Gottesdienstbesuch möglicherweise wünschenswert macht. Eine solche Kasualisierung des Gottesdienstes, wie sie von bestimmten Vertretern der Kirche befürwortet wird, 5bedeutet allerdings eine massive Umdeutung des Gottesdienstes und schließlich auch eine Neudefinition des Christentums an sich. Hier ist Gottesdienst vom Menschen her gedacht. Er ist zum Ort, zur Quelle individueller geistlicher und seelischer Befriedigung geworden. Gottesbegegnung wird hier auf eine distanzierte, persönlich kaum wahrgenommene religiöse Erfahrung reduziert. Man geht hin, weil man glaubt, die Religion für sich selbst instrumentalisieren zu können.
Ist das Gottesdienst, wie ihn die Bibel lehrt? Oder hat sich hier eine genuin heidnische Grundhaltung nach vorne geschoben, die den Gottesdienst als solchen zu einer Abart seiner selbst umgestaltet hat? Hat das Kasualchristentum eine Überlebenschance in einer Welt, die zunehmend nach der Alltagsbedeutung des Glaubens fragt?
1.2 Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft
Als bewusste Alternative zu den Kasualiengottesdiensten verstehen sich all jene Vorschläge zur Gottesdienstgestaltung, die sich darum bemühen, den modernen Menschen da abzuholen, wo er sich wirklich befindet. Einen „menschengerechten Gottesdienst“ fordert beispielsweise Winfried Blasig (1981). Im Zeitalter der Unterhaltung ist persönliches Erleben von zentraler Bedeutung. Die Erlebnisgesellschaft unserer Tage verlangt nach der Befriedigung persönlicher Erlebnisbedürfnisse. 6Der Gottesdienst kann und soll, so wird argumentiert, jenen religiösen Raum bieten, wo die Erlebnisdefizite auf spiritueller Ebene abgebaut werden. 7Wo Unterhaltung zum Gestaltungsprinzip des gesellschaftlichen Daseins erhoben wird, muss der Gottesdienst zur Unterhaltung werden. Der Gottesdienst wird somit zu einem Kunstwerk (Grözinger 1998:98ff), zu einer „theatralischen Inszenierung“ (Kunz 2006:65), die „fantastisch inszeniert ist, die Menschen in Staunen versetzt, aber keine […] praktischen Konsequenzen zur Folge hat“ (Beck 2007:47).
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