Etwas Draufgängerisches stieg nun in ihm auf. Zum erstenmal fühlte und sah er das goldene Gitter, das ihm seine Freiheit nahm. Gerade die wichtigste Frage in seinem Dasein sollte nicht sein Gefühl entscheiden, lediglich die Dankbarkeit gegen seinen Gönner E. F. W.? Er sollte eine Frau nehmen, die ihm innerlich fremd war? Nein, nein, nein!
Auch der Hochmut dieser Schwägerinnen reizte und peinigte ihn jetzt. Was war denn diese bequeme, immer fülliger werdende Dora, wenn etwa ein Bankkrach sie ihres Reichtums beraubte? Was war sie innerlich und äusserlich? Er hatte sie gestern früh gesehen, als sie verschlafen ins Badezimmer ging, noch nicht geschminkt, das weissblonde Haar noch nicht frisiert. In dem kostbaren Schlafrock sah sie fast grotesk aus; stark gepolstert war sie, auffallend klein, weil ihr die hohen Absätze der Tagesschuhe noch fehlten. Ihm gegenüber brachte sie nicht einmal ein bisschen Eitelkeit auf, weil er für sie nicht mitzählte. Martha wieder versuchte, ihn durch törichtes Gehabe in Unruhe zu versetzen. Ich hasse sie, alle beide! sagte er zu sich. Und Minna — würde er hassen lernen, wenn sie erst verlobt, verheiratet wären ...
Als er sie am Abend zwischen den Gästen traf, war sie ganz kameradschaftlich zu ihm, scheinbar unbefangen. Es machte ihr Spass, mit ihm englisch zu sprechen. Vielleicht gerade deswegen, weil man das im Hause Nidders nicht liebte. „Sei doch kein Frosch, alter Boy!“ sagte sie und gab ihm einen heimlichen kleinen Rippenstoss, als er immer wieder deutsch antwortete.
Mit ihrer ältesten Schwester sprach Minna kein Wort. Dora spielte heute abend die Überempfindliche. Sie konnte den Lärm auf der Kegelbahn nicht vertragen. In dem mit Butzenscheiben versehenen Kneipraum sass sie in einem der neuen amerikanischen Schaukelstühle und wippte mit kurzen Stössen auf und nieder. Niemand kümmerte sich schliesslich um sie, weil die boshafte Kritik, die sie an allem übte, die Stimmung zu verderben drohte.
Minna gab sich forsch, neckte sich mit allen Herren, bewies wieder ihr Kegelspieltalent, brachte es zweimal auf „Alle neune“ und hatte unbedingt die Absicht, die Heldin des Abends zu sein.
E. F. W. hatte an solchen zwang- und harmlosen Empfängen meist die grösste Freude. Er sprach dann auch der Bowle tüchtig zu. Aber als die Gäste aufgebrochen waren, wurde es wieder fröstlig um ihn. Mit ein paar kurzen Bemerkungen kanzelte er Dora wegen ihres läppischen Benehmens ab.
Dora weinte. Sie liess sich von Martha ein Schlafpulver bringen, da sie sonst in ihrem leidenden Zustand kein Auge würde zutun können.
Minna gähnte übertrieben, rieb sich die Augen mit beiden Handrücken und erklärte, sie sei so todmüde, dass sie erst am andern Morgen auspacken werde. Flüchtig wünschte sie gute Nacht und zog sich zurück.
Als Fritz in sein Zimmer kam, war er entschlossen, das Haus noch vor Monatsschluss zu verlassen; die Atmosphäre hier war ihm heute unerträglich geworden.
Unbehagen strömte auch der Raum aus, in dem er hier einquartiert war. Aus dem Schlafzimmer des Ehepaares waren nach dem Tode der Frau Nidders die dicken, schweren Tür- und Fensterportieren, die E. F. W. niemals hatte leiden können, entfernt worden; man hatte sie vorläufig in der „Jungenstube“ untergebracht, auch alle Teppiche, die niemand mehr mochte. Ein mächtiger Perserteppich hing über der Doppeltür, die zu Minnas Zimmer führte. Der schrankartige Zwischenraum dort war vor vielen Jahren einmal ausgepolstert worden, weil Minna sich über den Lärm ihrer Brüder beklagte. Das Zimmer sei jetzt wie eine Gummizelle, hatte Martha einmal bemerkt.
Fritz setzte sich an den Schreibtisch. Auf einem Block Zeichenpapier hatte er die Masse des Raumes, den er ausgemessen, niedergeschrieben. Ein paar architektonische Zeichnungen waren dabei skizziert. Er wollte die Vorschläge für den Umbau möglichst bald dem Kommerzienrat vorlegen. Als er sich umwandte, um den Abstand der Verbindungstür von der Ecke des Zimmers zu überprüfen, erschrak er; denn der grosse Perserteppich bewegte sich plötzlich.
Lautlos öffnete sich jetzt die Tür vom Nebenzimmer. Minna trat rasch und leise ein. Sie winkte ihm zu, keinen Laut zu geben. Dann liess sie den Teppich wieder vorsichtig über die Tür fallen.
Er war aufgestanden. „Minna —?“
Sie lauschte. Im ganzen Hause war es totenstill. Hier hätte man aber auch Schritte oder Stimmen von draussen kaum gehört. „Ich muss dich sprechen, Fritz. Schliess nach der Diele ab! Leise! Den Riegel! Niemand braucht zu wissen —“
Er zögerte, war noch ganz betroffen.
„Mein Gott!“ sagte sie ärgerlich und riegelte selbst die Aussentür zu. Lauschend hielt sie dabei das Ohr eine Weile zwischen Tür und Türvorhang. Sie hatte dasselbe weissblonde Haar wie Dora und Martha, aber nicht deren wasserblaue Augen. Mit „Vergissmeinnicht, in Milch gekocht“ hatte sie als Backfisch die Augenfarbe ihrer Schwestern bezeichnet. Minnas Nase war schlank und gab ihrem Gesicht etwas Aristokratisches. Sie hatte auch sichtbare, etwas dunklere Wimpern, während die Augen beider Schwestern fast wimpernlos wirkten. In ihren Bewegungen lagen Schwung und Sicherheit. Man merkte ihr die gute Reiterin, auch die flotte Tänzerin an.
„Brauchst keine Angst zu haben, Fritz! Die schlafen schon alle im Hause. Hat Pa mit dir geredet? Nicht? Mir hat er einen grossen Speech versetzt. Also er denkt noch immer, wir sollen heiraten, du und ich. Aber das ist doch Unsinn. Du magst mich hoffentlich ebensowenig als Frau wie ich dich als Mann. Gib dir gar keine Mühe, Fritz, etwa aus Höflichkeit zu widersprechen! In fünf Minuten muss volle Klarheit zwischen uns sein. Ich bin dir gut, Fritz. Hab’ dich immer gerngehabt. Aber eine Ehe zwischen uns? Unmöglich! Das hat für mich noch seine besonderen Gründe. Du erfährst alles. Bloss deine Hand musst du mir jetzt geben und mir heilig versprechen — — Ach, ‚heilig‘ ist Quasselei! Anständiger Kerl bist du immer gewesen ... Wir müssen einen Pakt schliessen, Fritz. Willst du? Oder willst du nicht?“ Sie hatte ihn auf seinen Stuhl niedergedrückt und sich auf den Rand des Schreibtischs gesetzt. Da ihr kalt geworden war, zog sie den Morgenrock mit beiden Händen eng am Hals zusammen. „Rede doch einen Ton, Fritz!“
„Was soll ich dir versprechen? Dass ich dir keinen Heiratsantrag machen werde, davor bist du vollkommen sicher. Jetzt sicherer als je.“
„Hab’ ich dich gekränkt? Dann verzeih mir, Fritz! Ich bin in einer verteufelten Lage. Pa ist ja kaum mehr ernst zu nehmen. Er hat sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt, dass sein Schwiegersohn hier sein Nachfolger werden wird. Ist ja trostlos. Doras Mann ist nach Südamerika ausgerückt. Und der kleine Pinneke ist eben Pinneke. Goldene Mittelmässigkeit. Nun sollen wir zwei alles retten ... Fritz, du denkst vielleicht, ich wär’ geradeso ein kühles und berechnendes Frauenzimmer wie etwa Dora oder auch Martha? Darin täuschst du dich. Ich bin anders, ganz anders. Jawohl, du! Und ich liebe! Und für den Mann, den ich liebe, würde ich durchs Feuer gehen. Aber der ist ganz und gar kein Kaufmann. Passt nicht hierherein. Und Pa ist natürlich darüber entsetzt. Ich hoffe, dass er dir jetzt nicht weiter zusetzen wird, wo ich ihm die ganze Wahrheit gesagt habe. Bedenkzeit und so, das ist alles vergebens. Ich will Bert zum Manne haben. Wir sind füreinander geschaffen. Ja, er hat Schulden und allerlei andere kleine Schönheitsfehler. Er war bisher sehr leichtsinnig, glaub’ ich. Vielleicht auch flatterhaft. Weil er mich noch nicht gekannt hat. Jetzt flammt es in ihm. Er ist ein neuer Mensch geworden. Ich werde ihm helfen, Pa mag sich auf den Kopf stellen. Aber alles wird leichter, wenn ich mit dir einig bin.“
„Ich habe dir doch keinen Zweifel mehr gelassen, Minna. Meine Person kannst du aus deinem Schicksal also völlig ausschalten.“
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