Fritz vertrug ein solches Verhör nicht. Der alte E. F. W. vergass manchmal, dass sein Schützling jetzt im Mai schon vierundzwanzig wurde. Natürlich hörte Fritz aus allem, was noch folgte, dass Dora, Martha und der junge Pinneke wieder einmal Unfrieden stiften wollten. Er zog also eine Lehre daraus. „Dass deine Firma sich an der Ausstellung beteiligen muss, halte ich für selbstverständlich, Onkel E. F. W. Die ganze Konkurrenz ist schon im Arbeitsausschuss tätig. Es tut mir also leid, dass du dich nicht selbst hast hineinwählen lassen.“
„Ich hasse diese Schwatzbuden. Das sind Eitelkeitsmärkte mit Reklametrommeln. Gute Leistungen sind billiger und dauerhafter.“
Im modernen Geschäftsleben stand E. F. W. nur immer als Beobachter im Hintergrund. Fritz begegnete stets Schwierigkeiten, wenn er ihn zu tätiger Anteilnahme an Dingen bewegen wollte, die nicht unmittelbar mit dem Fabrikbetrieb zusammenhingen. „Der Garantiefondszeichnung kann sich ein Haus wie E. F. W. Nidders unmöglich entziehen, Onkel. Es stehen schon mittlere Firmen mit dreissigtausend Mark auf der Liste.“
E. F. W. strich sich über seinen kurzen grauen Bart. „Ich denke an eine viel höhere Summe. Aber alle Nidders sollen gemeinsam dafür zeichnen.“
„Zu gleichen Teilen?“
„Bewahre. Zeichnet Pinneke dreissig, dann zeichnet Heinrich Nidders wahrscheinlich fünfzig und Rolf Nidders fünfundsiebzig. Mit fünfundneunzig kann ich dann die Viertelmillion rundmachen. Der Name Nidders mit der Zahl. Keine Silbe mehr. Draussen braucht niemand den Prozentsatz zu wissen. Aber mir genügt: Die Nidders kennen ihn. Denn diese Selbsteinschätzung wäre einmal ganz vorteilhaft und erziehlich so unter uns Pfarrerstöchtern. Du verstehst?“
„Selbstverständlich!“ Fritz begriff, dass E. F. W. vor allem einmal dem Vater von Marthas Verlobtem die richtige Rangordnung beibringen wollte. „Hast du nach der Richtung schon irgendwelche Schritte getan?“
„Das soll dir überlassen bleiben, Fritz.“ Der Kommerzienrat zog die schmiedeeiserne Truhe mit den Zigarren heran. „Setze dich, Fritz! Rauche, wenn dir’s Spass macht! Wir wollen die Sache kurz besprechen.“
Lange Sitzungen gab es im Büro des Kommerzienrats nie. Er duldete in seinen Geschäftsräumen keine gepolsterten Stühle. Auch im Herrenzimmer der Villa hatten seine Töchter nur mit Schwierigkeiten die neu aufgekommenen Klubsessel durchgesetzt. Er rauchte keine Havanna — kannte auch keine Handschuhe, einen Pelz schon gar nicht. Betont volksmässig trug er sich. Zunächst seiner Arbeiter halber, denen er bei jeder Fabrikfeier nachdrücklich auseinandersetzte, wie er das Werk E. F. W. Nidders ganz aus eigener Kraft geschaffen hatte. Im Jahre achtundvierzig hatte er seinen damaligen Lehrherrn aus recht verzweifelter Lage befreit. Seine Belohnung war die, dass er hernach beim Meister arbeiten durfte. Der Betrieb, mit dem er selbständig angefangen, war jammervoll winzig gewesen. Aber von Jahr zu Jahr war er gewachsen. Heute stand E. F. W. an der Spitze von allen Nidders in Berlin. Und das sollten ihm die anderen Träger des alten Namens jetzt bestätigen.
Ein fabelhafter Kerl! sagte sich Fritz, als er von dem grossen Selfmademan entlassen wurde, um sofort an seine schwierige Aufgabe heranzugehen.
Auf einem dieser geschäftsdiplomatischen Gänge, die ihn von Charlottenburg nach Moabit, nach Tegel im Norden und nach der Schlesischen Strasse im Südosten Berlins führten, lernte er auch Fränze Daus kennen, deren Mutter eine geborene Nidders war.
Der Chef der Firma Heinrich Nidders & Co. war ein Spiesser, ganz das Gegenteil von seinem Vetter E. F. W. Er hatte reich geheiratet und zählte zu jenen Grundstücksspekulanten, die in den achtziger Jahren aus dem Aufblühen des Berliner Westens rund um den Nollendorfplatz märchenhafte Gewinne zogen. Gegenwärtig schien die Ausdehnung stillzustehn, und Heinrich Nidders hörte sofort zu wagen auf. Es war ja auch wohl unmöglich, dass das weite Sandgebiet hinter dem Bahnhof Zoologischer Garten über seinen jetzigen übertriebenen Preis hinaus noch gesteigert werden könnte. Die Strassen waren schon eingeteilt, aber nur ganz vereinzelt wurde gebaut. Die Ländereien, die daran anschlossen bis zu den alten Landgütern hin, etwa dem stillgelegten Rittergut hinter Witzleben, von dem jetzt so oft die Rede war, sie hatten alle nur kärglichen Boden, taugten weder für Bauern- noch für Gartenbetrieb, und dass die städtische Entwicklung sie je erreichen würde, daran zweifelten die Eingeweihten. Für Industriezwecke sollte die Gegend vorläufig nicht hergegeben werden.
Heinrich Nidders bildete auch in seinem äusseren Auftreten ein Gegenstück zu E. F. W. Er war ziemlich beleibt, hatte ein feistes, glattes Kinn, feuchte Lippen, picklige Gesichtshaut und stets etwas verklebte Augen. Sein Bestreben, nach der neuesten Mode gekleidet zu gehen, war auffallend. Aber der Farbensinn fehlte ihm. Und von seinem Schneider liess er sich nicht beraten. Er war schon mehrmals in London und Paris gewesen und wusste allein, was der elegante Herr von 1895 trug. Am liebsten zeigte er sich in grauem Gehrock und grauem Zylinder, weil er die Herren auf der Rennbahn in Epsom so gesehen hatte, was ihm einen tiefen Eindruck hinterliess.
Da Fritz Nidders ihm seine erste Frage, ob er England kenne, bejahte, versuchte Heinrich sogleich, seine englischen Sprachkenntnisse, die nur sehr gering waren, zusammenzuholen. Wohl mehr der hübschen Schreibhilfe halber, die in seinem Privatbüro sass. Er brach aber rasch wieder ab.
Die Aussprache mit diesem drolligen Chef gab dem jungen Fritz Nidders einen guten Einblick in das vielbelächelte Berlin der alten Gründerzeit. Mit wenig Wagemut recht viel einheimsen und das Gewonnene aufhäufen, ohne irgendwem damit zu nützen, das schien ihm der Lebensgrundsatz dieser Leute.
Heinrich Nidders hatte nur den einzigen Ehrgeiz, in der Berliner Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Zu den grossen Wohltätigkeitsfesten erschien er stets. Seine Frau war dann pompös gekleidet. Auf seinem Schreibtisch hier in der Schlesischen Strasse stand eine Photographie von ihr in Balltoilette, tief ausgeschnitten, beinahe wie in Hofrobe, mit grosser Schleppe und mächtigem Reiherfederaufputz auf dem Kopf. Jeder Besucher musste Frau Jenny sehen. Ein nüchternes Gesicht mit ausdruckslosen Augen und ewig gekränkten Mundwinkeln.
Heinrich Nidders glaubte endlich den Augenblick gekommen, in dem er dem grossen E. F. W. menschlich, gesellschaftlich nähertreten könnte. Die drei blonden Töchter des Kommerzienrats hatte er oft mit einem gewissen Neidgefühl betrachtet, wenn sie zu Pferd mit eleganten Sportsleuten durch den Tiergarten trabten oder wenn eine von ihnen den Selbstfahrer lenkte, auf dem Rücksitz ein Groom mit verschränkten Armen. Vielleicht nahm Jenny nun doch das Reiten auf? Dem Reitklub, in dem die Töchter von E. F. W. Quadrille ritten, müsste man dann als Mitglied beitreten ...
Ja, in der Garantiefondsgeschichte würde er mit sich reden lassen. Sehr hübsch, die Anregung von E. F. W., dass alle Nidders geschlossen vor die Front träten. Je nach der Höhe der Zeichnung belief sich dann der Prozentsatz der Zahlungsverpflichtung bei einer etwaigen Inanspruchnahme des Garantiefonds. „Vorläufig steht ja das alles nur auf dem Papier, bleibt es hoffentlich auch im Ernstfall“, meinte Heinrich, „aber die Höhe, die mein Vetter da für meine Beteiligung vorschlägt, geht eigentlich über meine Absichten hinaus. Ich dachte so an zehn, fünfzehn ...“
Mit verbindlichster Miene, ganz diskret, vertraute Fritz dem Herrn im grauen Gehrock an, mit welchen Summen die übrigen Firmen Nidders einzuspringen gedächten.
Ein paar Augenblicke blieb Heinrich der Atem weg. „Teufel, Teufel! Hm. Da möcht’ ich doch erst noch mit meiner Frau ... Ach nein, Jenny versteht das nicht so recht; Männersache ... Gut, ich will mir’s überlegen. Nein, Sie können eigentlich schon bestimmt damit rechnen. Und ich werde ja bald einmal E. F. W. persönlich sprechen. Meinen gehorsamsten Gruss! Sie haben aber noch gar nicht meinen Kognak versucht, Herr Nidders. Drei Sterne, bitte sehr. Vormittags gar nicht? Aber das ist doch gerade schick! In London zum Beispiel ...“ Er sprang rasch ab, schlug im Hinausbegleiten lieber noch ein neues Thema an, vielleicht nur aus Verlegenheit, um die geschäftliche Konversation weltmännisch überlegen abzuschliessen. Da gäbe es übrigens noch mehrere Familien Nidders im Berliner Geschäftsleben, die man vielleicht mit heranziehen könnte. Natürlich müsse man sorgfältig auswählen. Zufällig habe er von seinem Vertreter gehört, dass da eine leistungsfähige Gärtnerei an der Köpenicker Landstrasse bestehe, Julius Bottschau, gegenüber dem neuen Treptower Park, und dieser Herr Bottschau habe nämlich auch eine Nidders zur Frau gehabt ... „Nur für den Fall, dass Sie sich mal den Treptower Park selbst ansehen wollen, Herr Nidders. Sehr schöner Ausflugsort für die Berliner. Die kleineren Leute tapern da ja meistens zu Fuss hin. Ah, famos, Sie haben auch einen eigenen Wagen? Ja, ich lasse mir jetzt Gummiräder einsetzen. Meine Frau hat das schon immer gewollt. Die Damen sind in gewisser Hinsicht etwas empfindlich ...“ Er verzog das Gesicht, als habe er einen diskreten, aber sehr guten Witz gemacht.
Читать дальше