Zu einem so guten und getreuen Freund, der uns weder in dieser noch in jener Welt verlassen wird, können wir nie zuviel Vertrauen haben.
Er entfernt sich niemals von uns, solange wir uns nicht zuerst von ihm entfernen.
Die feste Gewohnheit wird nur unter Schmerzen in uns zuwege gebracht.
Die vorliegende Neuausgabe der überlieferten Schriften des lothringischen Karmeliterbruders »Lorenz von der Auferstehung« fußt auf der immer noch grundlegenden deutschen Ausgabe von Gerhard Tersteegen (1697–1769). Er hat in seinem Werk »Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen« auch dem Bruder Lorenz eine ausführliche Darstellung gewidmet (Band 2, 1735, zuletzt ungekürzt und unverändert neugedruckt 2004, dort Seite 258–334).
Die Überlieferung der Texte von bzw. über Bruder Lorenz umfasst drei verschiedene Textsorten:
• Aufzeichnungen von vier Gesprächen, die Bruder Lorenz mit Herrn von Beaufort, einem Priester und späterem Generalvikar des damaligen Bischofs von Châlons, geführt hat;
• sechzehn Briefe an verschiedene Adressaten;
• sieben kurze Texte des Bruders Lorenz, gewöhnlich als (Kleine) Schriften oder auch als »Geistliche Weisungen« bezeichnet.
Gerhard Tersteegen hat diese Texte an verschiedenen Stellen in seine Darstellung der Lebensgeschichte des Bruders Lorenz eingestreut. In unserer Neuausgabe bilden sie drei in sich geschlossene Blöcke.
Die ursprünglich in französischer Sprache geschriebenen Texte sind aus dem kunstvollen, aber heute für den ungeübten Leser schwer lesbaren Deutsch Gerhard Tersteegens in ein flüssiges, moderneres Deutsch übertragen worden. Bei der Bearbeitung wurde der Text am französischen Originaltext überprüft. Die jüngste Edition des Originaltextes stammt von dem belgischen Karmeliterpater Conrad de Meester. Sie ist 1991 unter dem Titel »Laurent de la Résurrection. Écrits et entretiens sur la Pratique de la Présence de Dieu« im Verlag Les éditions du CERF , Paris, erschienen.
So haben wir uns bemüht, den Text so zu gestalten, dass Bruder Lorenz mit seinem persönlichen Stil und der ihm eigenen Ausdrucksweise doch als Bruder Lorenz, als ein Mönch aus einer weit zurückliegenden Epoche, erkennbar bleibt. Darum haben wir manchmal einen fremd klingenden Ausdruck stehen gelassen, auch wenn er so vielleicht nicht ohne weiteres verständlich ist. In dem Abschnitt »Zur Sprache und Ausdrucksweise des Bruders Lorenz« (Seite 35 ff.) werden die wichtigsten Ausdrücke erläutert.
Dem besseren Verständnis sollen auch die anderen einführenden Kapitel dienen: eine knappe Darstellung der Lebensgeschichte des Bruders Lorenz; eine Einführung in seine spirituelle Praxis, die zur Übersetzung seines Anliegens in heutige Möglichkeiten und Formen geistlicher Übung helfen möchte; ein Abschnitt über mögliche »Risiken und Nebenwirkungen«, die sich bei unachtsamer Anwendung der von Bruder Lorenz gegebenen Anweisungen einstellen können; dazu einige Anmerkungen zu Begriffen, die bei Bruder Lorenz eine wichtige Rolle spielen.
Möge die neue Ausgabe vielen Menschen den Weg zu einem Leben in immer neuer lebendiger Erfahrung der Gegenwart Gottes erschließen!
Hafkamp, in der Osterzeit 2007 Reinhard Deichgräber
1. Ein unauffälliges Leben
Wer war Bruder Lorenz? Wann und wo hat er gelebt? Was hat er gemacht? Was hat er erlebt? Wie ist er zu dem geworden, als der er in die Geschichte der christlichen Kirche eingegangen ist?
Wir wissen nicht viel von ihm. Um die kärglichen Fakten seiner Lebensgeschichte aufzuzählen, genügt eigentlich eine halbe Buchseite. Bruder Lorenz hätte mit seinem Zeitgenossen Paul Gerhardt (1607–1676) bekennen können:
An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd. Was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert .
Nein, er wollte nicht bekannt werden, und schon gar nicht berühmt. Was andere von ihm dachten, war ihm offenbar gleichgültig. Ihm war es nur recht, wenn er in seiner Klosterküche in aller Verborgenheit seinem Gott dienen konnte. Vergessen werden war ihm eine Freude.
Hier also die spärlichen Daten und Fakten. Wann er geboren ist, wissen wir nicht genau. Da er bei seinem Tod im Jahr 1691 etwa achtzig Jahre alt war, muss er irgendwann um 1610 geboren worden sein. Sein Geburtsort ist Hériménil, in der Nähe von Lunéville im damaligen Herzogtum Lothringen gelegen. Seine Eltern ließen ihn auf den Namen Nikolaus taufen. So hieß er mit bürgerlichem Namen Nicolas Herman. Von seinen Eltern wurde er gewissenhaft im Glauben der römisch-katholischen Kirche erzogen, hat aber offenbar keine Schule besucht. So standen ihm auch nur einfache, ungelehrte Berufe offen. Schon früh wurde er Soldat, dann, nach einer in einem Gefecht erlittenen Verwundung, Diener des fürstlichen Schatzmeisters Fieubet. Im Alter von gut fünfundzwanzig Jahren, im Juni 1640, trat er in das Kloster der Karmeliten in Paris ein und blieb dort bis an sein Lebensende.
Der Entscheidung, Mönch zu werden und in ein Kloster einzutreten, war eine höchst ungewöhnliche »Bekehrung« vorausgegangen. Bruder Lorenz hat sein Erlebnis selber so beschrieben: »Anlässlich meiner Bekehrung hat Gott mir eine besondere Gnade erwiesen. Ich lebte damals noch in der Welt und war achtzehn Jahre alt. Eines Tages betrachtete ich im Winter einen Baum, der zu dieser Zeit alle seine Blätter verloren hatte. Ich stellte mir vor, wie die Blätter nach einiger Zeit wieder hervorkommen würden und bald darauf die Blüten und schließlich die Früchte. Dabei gewann ich eine tiefe Einsicht in die Fürsorge und Allmacht Gottes, eine Einsicht, die später nie mehr aus meiner Seele ausgelöscht wurde. Dieser Eindruck hat mich ganz von der Welt losgemacht und eine so starke Liebe zu Gott in mir erweckt, dass ich nicht sagen kann, ob diese Liebe sich bei mir in den vierzig Jahren, die verflossen sind, seit ich diese Gnade empfing, noch vermehrt hat« (vgl. Seite 40). Dass er gerade bei den Karmeliten um Aufnahme bat, mag auch darin seinen Grund haben, dass ein Onkel Mitglied dieses Ordens war.
Die Karmeliten? Unter den Orden der römisch-katholischen Kirche ist dieser Orden einer der strengsten. Die Mönche folgen konsequent einer kontemplativen Berufung, leben also ein Leben des Schweigens, des Gebets und der Meditation. Der Name »Karmeliten« erinnert an den biblischen Berg Karmel, den Berg, auf dem der Prophet Elia mit den Baalspriestern um den Glauben an den einen wahren Gott, den Gott Israels, stritt (1. Könige 18). Der Prophet Elia steht aber auch für eine ganz besondere Gotteserfahrung, als ihm der lebendige Gott in einem »stillen, sanften Sausen« (Luther), in einem »verschwebenden Schweigen« (Buber) begegnete, und nicht in den spektakulären, zerstörerischen Erscheinungen von Sturmwind, Erdbeben und Feuer (1. Könige 19,9 ff.).
Im Kloster durchlief der junge Mann das zweijährige Noviziat. Nach dessen Beendigung wurde er von seinen Oberen zur Ablegung der »ewigen« (endgültig bindenden) Gelübde zugelassen. Dies überraschte den demütigen jungen Bruder sehr; seiner Selbsteinschätzung nach machte er alles verkehrt und taugte zu nichts. Als Mönch erhielt er den Namen »Bruder Lorenz von der Auferstehung«, und so kennen wir Nikolaus Herman heute eigentlich nur unter dem Namen »Bruder Lorenz«.
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