Carolin Wiedemann
Vom Sturz des Patriarchats
Einleitung
1. Patriarchat
1.1 Kurze Geschichte der Patriarchatskritik
1.2 Postfeminismus, Neopatriarchat und die Rückkehr der Kritik
2. Antifeministische Mobilisierungen
2.1 Rechtsruck gegen den Feminismus
2.2 Bürgerlicher, pseudoliberaler »Gender-Wahn«
2.3 Klassenkampf und Nebenwidersprüche
3. Kapitalismus und Patriarchat
3.1 Bürgerliche Gesellschaft: Zweigeschlechtlichkeit, romantische Liebe und Kleinfamilie
3.2 Kontinuitäten und Verwebungen
4. Beziehungen befreien
4.1 Queerfeministische Bewegungen
4.2 Kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit
4.3 Begehren nach Sex ohne Sexismus
4.4 Post-romantisches Lieben
4.5 Neue Familienbande: Zusammenleben jenseits der bürgerlichen Kleinfamilien
Schluss
Körper und die Sehnsucht nach dem Ende der Herrschaft
Anhang
Danksagung
Bemerkung zu den Bezeichnungen
Literaturverweise und -empfehlungen
2016 beschloss der Bundestag die Reform des Sexualstrafrechts und gab dem Grundsatz »Nein heißt Nein« damit Gesetzesstatus; 2018 folgte die Einführung der Dritten Option, die Möglichkeit des Geschlechtseintrags »divers«. 2019 entschied der Spiegel , seine Ressortleitungen künftig jeweils mit mindestens einer Frau zu besetzen, und die Redaktion der Süddeutschen Zeitung diskutierte, in Artikeln nicht mehr nur das generische Maskulinum zu verwenden. Die Jugendformate der beiden Medienhäuser, Jetzt und Bento , gingen zum Gender-Sternchen über, um auch alle nichtbinären Menschen zu berücksichtigen. 2020 übernahmen die Fernsehstars Joko und Klaas die inklusive, geschlechterneutrale Ausdrucksweise zur Primetime auf ProSieben. Unter dem Hashtag #Frauenzählen bewiesen Feminist*innen, wie sexistisch der Literaturbetrieb ist, während neue Läden eröffneten, die nur Bücher von Frauen und Queers verkaufen. Der Wiener Musiker Mavie Phoenix, der in der Öffentlichkeit zunächst als Frau gegolten hatte, gab bekannt, kein Pronomen mehr für sich zu verwenden, bevor er schließlich das männliche wählte; die Vogue porträtierte ihn daraufhin als einen der wichtigsten Popstars unserer Zeit. Die Rapper von der Antilopen Gang kritisierten erneut mackeriges Verhalten. Und die Künstlerin Janelle Monáe, die sich als pansexuell bezeichnet, also keine Geschlechter begehrt, sondern Menschen an sich, nutzte ihren Auftritt bei der Eröffnung der Oscar-Verleihung 2020, um die Machtverhältnisse der Branche von innen heraus anzuprangern. Sie rief ins Mikrofon: »Wir feiern alle Frauen, die phänomenale Filme gemacht haben«, und weiter: »It’s time to come alive«. Das ist der Aufbruch, jubelten die Fans im Internet: Das Ende der sexistischen Verhältnisse im Film und in der echten Welt ist nah!
Aber da sind wir noch nicht, weder in Hollywood noch andernorts, allen queerfeministischen Errungenschaften zum Trotz. Der Widerstand des Patriarchats gegen seine Überwindung ist groß.
Während in Los Angeles die Oscars verliehen wurden, erklärte sich in Polen eine weitere Gemeinde zur »LGBTIQ-freien Zone« und verkündete, keine Menschen zu dulden, die sich nicht als heterosexuelle cis Frauen oder Männer definieren, wie Gott sie vermeintlich erschuf; in Berlin bespuckten zwei Jugendliche eine 51-jährige trans Frau, besprühten sie mit Pfefferspray und drohten, ihr die Haare anzuzünden. Allein in einem Monat wurden in der Hauptstadt fünf weitere transfeindliche Gewalttaten gemeldet. 2019 war dort laut Angaben des Antigewaltprojekts Maneo die Zahl von Übergriffen, die sich gegen die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität von Menschen richteten, um fast 50 Prozent höher als im Vorjahr. Martin Sellner, Chefstratege der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich erklärte, der Feminismus bringe Übel, weil er Frauen gegen ihre Natur vom Herd trenne, und Björn Höcke, der nach der Wahl in Thüringen triumphierte, forderte erneut, dass Männer endlich wieder »mannhaft« sein sollten – freilich nur diejenigen, die bei der Geburt als solche galten. Am 8. März 2020 wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Demonstration zum Weltfrauentag, die feministische Demonstration in Aachen, von Nazis angegriffen. Und ein knappes halbes Jahr später, am 5. September, zerrissen sogenannte Querdenker in Wien auf der großen Bühne einer Kundgebung gegen Corona-Schutzmaßnahmen eine Regenbogenflagge, das Symbol der LGBTIQ-Bewegung, und riefen: »Ihr seid nicht Teil unserer Gesellschaft.«
Am Umgang mit der Frage nach Geschlechtern, nach Identitäten, nach Begehrens- und Beziehungsformen zeigt sich, wie frei unsere Gesellschaft tatsächlich ist und wie gerecht wir sind. An diesen Fragen entscheidet sich, wohin wir steuern. Oft wird jedoch genau das Gegenteil behauptet: Die Postmoderne, Gender-Theorie und queere Aktionen seien irrelevante, elitäre Unterfangen, die unsere Gesellschaften nur spalten und uns auf Abwege bringen würden. Der Feminismus sei über das Ziel hinausgeschossen, als er zum Queerfeminismus wurde, heißt es dann. Ich will in diesem Buch zeigen, wie falsch diese Aussage ist. Dass etwa die Einführung einer Dritten Option Teil einer Entwicklung ist, die alle freier machen kann. Und dass es populistisch ist und den Rechten in die Hände spielt, sich gegen diese Entwicklung auszusprechen und den vermeintlichen »Gender-Wahn« zu kritisieren, wie es der Papst tut, wie es auch liberale Journalist*innen betreiben, etwa die Zeit -Autoren Harald Martenstein, der sich von Feministinnen diskriminiert fühlt, und Jens Jessen, der die #MeToo-Bewegung mit dem Gulag verglich. Und wie es auch Sigmar Gabriel macht, wenn er befindet, die SPD habe sich zu lange mit Homosexuellen und anderen Minderheitenfragen befasst statt mit dem deutschen Arbeiter, wenn er also Klassenpolitik und Queerfeminismus gegeneinander ausspielt statt den Menschen klarzumachen, dass sie gemeinsam um Teilhabe und gegen alle Formen der Ausbeutung kämpfen müssten.
Im Antifeminismus dieser Aussagen zeigt sich das Aufbegehren eines patriarchalen Systems und seiner Hauptfigur, des weißen, heterosexuellen cis Mannes, dessen Ordnungen zunehmend bröckeln. Zum Glück und zum Gewinn aller.
Aller. Das müsse man den Menschen vermitteln, sagte die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser 2017, die deutschsprachige Ikone des Cyborg-Feminismus. Sie und ihre Kolleg*innen, die postmodernen Theoretiker*innen, so Harrasser, hätten vergessen, die Menschen jenseits der Gender Studies mitzunehmen, als sie begannen, von Cyborgs, von der Überwindung der Geschlechterbinarität und einer anderen Welt zu schwärmen. Das sei einer der Gründe dafür, dass die Menschen jetzt Trump und die AfD wählen. Sie folgte damit gerade nicht dem Anti-Gender-Argument von Sigmar Gabriel, man habe sich zu sehr mit queeren Toiletten befasst und dabei die Arbeiterklasse aus den Augen verloren. Nein, Harrasser meinte, dass sie, die progressiven Intellektuellen, es versäumt hätten, allgemein verständlich zu machen, warum alle von den Gender Studies profitieren.
Verständlich zu machen, dass alle Menschen gewinnen würden, wenn sie queerer werden, wenn sie die vermeintlich natürliche Unterteilung in zwei Geschlechter mit zugeschriebenen Eigenschaften immer weiter hinterfragen, wenn das »Cyborg-Manifest« weniger Utopie wäre, wenn gender, race und class keine Geltung mehr hätten, wenn Grenzziehungen verschwämmen und Herrschaftsverhältnisse verschwänden, wenn die Menschen sich weniger über Gene und Geld miteinander verbunden fühlen würden. Wenn sie stattdessen Familien jenseits von Mutter-Vater-Kind bilden würden, Wahlverwandtschaften, neue Formen der Solidarität jenseits alter Identitäten, wenn sie sich freier und zarter zugleich aufeinander bezögen, wenn sie freier und zärtlicher zugleich miteinander und beieinander schliefen.
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