Ein adäquates Verständnis des menschlichen Gehirns, wie es in diesem Buch in Grundzügen entwickelt werden soll, muss von der Phänomenologie unserer lebensweltlichen Selbsterfahrung ausgehen, in der wir keine Trennung von »Geist« und »Körper« erleben, sondern in einem leibliche, verkörperte und seelisch-geistige Wesen sind – also das, was wir auch als Personen bezeichnen. Erst dann können wir fragen, wie das Gehirn auf biologischer Ebene zu dieser Einheit der Person beiträgt. Die erste zentrale These der Untersuchung wird also lauten, dass alle seine Funktionen die Einheit des Menschen als Lebewesen voraussetzen und nur von ihr her zu verstehen sind. Dazu müssen wir zunächst einen adäquaten Begriff des Lebendigen entwickeln, der in den gegenwärtigen biomedizinischen Wissenschaften weitgehend fehlt. Die zweite These wird lauten, dass die höheren Gehirnfunktionen den Lebensvollzug des Menschen in der gemeinsamen sozialen Welt voraussetzen. Dazu bedarf es einer Konzeption menschlicher Entwicklung als kontinuierlicher Verankerung von Erfahrungen in den psychischen und zugleich zerebralen Strukturen des Individuums, im Sinne einer »kulturellen Biologie«.
Die Dimension des Lebendigen verankert das Gehirn im Organismus und seiner natürlichen Umwelt, die soziokulturelle Dimension verankert es in der gemeinsamen menschlichen Welt, von der es lebenslang geprägt wird, und ohne die seine spezifisch humanen Funktionen gar nicht begreiflich werden können. Beide Dimensionen vereinigen sich zu einer entwicklungs- und sozialökologischen Sicht des menschlichen Gehirns als Organ eines »zõon politikón«, eines Lebewesens, das bis in seine biologischen Strukturen hinein durch seine Sozialität geprägt ist. Das Gehirn erscheint darin zunächst als ein Organ der Vermittlung, das die vegetativen und sensomotorischen Beziehungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt ermöglicht, dabei aber auch so umwandelt und »verdichtet«, dass es für den Menschen zum Medium einer neuen, intentionalen Beziehung zur Welt werden kann. Damit steigern sich primäre Lebensprozesse zu seelischen und geistigen Lebensvollzügen mit zunehmenden Freiheitsgraden. Zugleich öffnet sich das menschliche Gehirn einer lebenslangen Prägung durch zwischenmenschliche und kulturelle Einflüsse: Es wird zu einem sozialen, kulturellen und geschichtlichen Organ – zum Organ der Person.
Bevor wir diese Konzeption in Angriff nehmen, soll eine Kritik verbreiteter reduktionistischer Konzeptionen des Verhältnisses von Gehirn und Subjektivität zunächst den Raum für die eigentliche Aufgabe freimachen. Ich werde diese Kritik in Teil A in zwei grundsätzlichen Schritten vornehmen: In Kapitel 1 setze ich mich mit der neurokonstruktivistischen Erkenntnistheorie auseinander, wonach die phänomenale Wirklichkeit als interne Abbildung oder Repräsentation durch neuronale Prozesse zu begreifen sei. In Kapitel 2 werde ich die Vorstellung eines »Gehirns als Subjekt« einer Kritik unterziehen und die Nicht-Reduzierbarkeit von subjektiver, insbesondere intentionaler Erfahrung darlegen.
Teil B entwickelt dann schrittweise und unter Einbeziehung verschiedener Denkansätze eine Theorie des Gehirns als Organ der menschlichen Person. Als ihre Grundlage wird in Kapitel 3, ausgehend von einem phänomenologischen Begriff der leiblichen Subjektivität, zunächst eine aspektdualistische Konzeption der Person als Einheit von »Leib« und »Körper« entworfen. Daran knüpft sich eine ökologische Theorie des lebendigen Organismus, die insbesondere eine Analyse der spezifischen Kausalität des Lebendigen einschließt. – Kapitel 4 entwickelt auf dieser Basis eine Konzeption des Gehirns als Organ eines Lebewesens in seiner Umwelt. Kapitel 5 betrachtet dann, unter Einbeziehung entwicklungspsychologischer Forschungen, das Gehirn als soziales, kulturelles und geschichtliches Organ. Kapitel 6 wird sich mit einigen Folgerungen dieser ökologischen und aspektdualistischen Konzeption für das Leib-Seele-Problem befassen. Abschließend untersucht Kapitel 7 mögliche Konsequenzen der Konzeption für ätiologische und therapeutische Konzepte in der psychologischen Medizin.
4Damasio 1995, 341.
5Roth 2000, 107. – Zum Motiv der Entlarvung in der Hirnforschung vgl. meinen Aufsatz »Neuromythologien« (Fuchs 2008, 206–327).
6Ebd.
7Man kann insofern auch von einem Programm der »Entanthropomorphisierung« sprechen.
8Les Passions de l’Ame, I, 23 (Descartes 1984, 41).
9Vgl. etwa Rorty 1993, Churchland 1997, Metzinger 1999.
Teil A: Kritik des neurobiologischen Reduktionismus
1 Kosmos im Kopf?
Übersicht. – Kapitel 1 enthält eine Kritik der neurokonstruktivistischen Erkenntnistheorie, wonach die phänomenale Wirklichkeit als interne Abbildung oder Konstruktion der Außenwelt durch neuronale Prozesse zu begreifen sei. Wie sich zeigt, liegt dieser Konzeption nach wie vor die idealistische Bildtheorie der Wahrnehmung zugrunde (
Kap. 1.1). Die Kritik betont demgegenüber den verkörperten Charakter der Wahrnehmung, die immer mit den motorisch-operativen Möglichkeiten des Leibes verknüpft ist. Um die subjektiv-leibliche Räumlichkeit als nicht nur virtuell zu erweisen, wird ihre Koextensivität mit dem Raum des objektiven Körpers bzw. des Gesamtorganismus ausführlich nachgewiesen (
Kap. 1.2). Von hier aus lässt sich nun auch, entgegen der Konzeption einer phänomenalen Innenwelt, die objektivierende Leistung der Wahrnehmung erkennen, die uns durch aktive Nachgestaltung mit den Dingen in unmittelbare Beziehung bringt (
Kap. 1.3). Schließlich wird die Behauptung der bloßen Virtualität wahrgenommener Qualitäten am Beispiel der Farben kritisiert (
Kap. 1.4).
Dass alles, was Menschen erleben, in Wahrheit eine Konstruktion oder Vorspiegelung ihrer Gehirne sei, gehört zu den gängigen Überzeugungen von Neurowissenschaftlern und Neurophilosophen. Von Schmerz oder Ärger über Farben oder Musik bis hin zu Liebe oder Glauben gibt es kaum noch ein Phänomen, das nicht im Gehirn untergebracht wird. Die nahezu selbstverständlich gewordene Ansicht, dass die Wirklichkeit im Kopf zu finden sei, »… führt zu der vieldiskutierten Frage: Wie kommt die Welt nach draußen? Die Antwort lautet hierauf: Sie kommt nicht nach draußen, sie verlässt das Gehirn gar nicht« (Roth 2003, 48). Die Wahrnehmung wird somit gewissermaßen zu einer physiologischen Illusion. Typische Beschreibungen lauten dann etwa folgendermaßen:
»Die geistige Multimedia-Show ereignet sich, während das Gehirn externe und interne Sinnesreize verarbeitet …« (Damasio 2002).
»… die Welt um Sie herum, mit ihren reichen Farben, Texturen, Klängen und Gerüchen ist eine Illusion, eine Show, die Ihnen von Ihrem Gehirn vorgeführt wird […] Wenn Sie die Realität erfahren könnten, wie sie wirklich ist, wären Sie schockiert von ihrer farblosen, geruchslosen, geschmacklosen Stille« (Eagleman 2015, 37; eig. Übers.).
»Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. (…) Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. (…) Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit oder mit uns selbst (…). Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel« (Metzinger 2009, 21 f.).
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