Interessanterweise hat Rudolf Allers, seinerzeit einer der frühen Mentoren Viktor Frankls aus dem ehemaligen Umfeld der Individualpsychologischen Vereinigung um Alfred Adler, in seiner Phänomenologie der Psychiatrie bereits einige dieser Merkmale im Amerika der 1960er Jahre beobachtet und sehr treffend wie folgt beschrieben:
Konflikte, Schwierigkeiten aller Art, die man früher in Kauf nahm und als unvermeidlich anerkannte, erscheinen heute vielen als ungebührliche Störungen ihres Behagens. Sie sind überzeugt davon, dass sie ein Anrecht auf ein leichtes Leben haben, und sehen daher im Konflikt nicht ein unausweichliches Moment der menschlichen Wirklichkeit, sondern ein Symptom. Überdies scheuen sie die Verantwortung, die jeder, auch nur einigermaßen folgenschweren, Entscheidung anhaftet. Daher sind sie nur allzu bereit, die Entscheidung anderen aufzubürden. Es ist nicht leicht zu sagen, ob man diese Menschen nun wirklich als Neurotiker ansehen soll (…) oder als Menschen, die in der Diagnose eine gültige Entschuldigung für ihre oft genug selbstverschuldete Lebensunfähigkeit finden und in der Behandlung einen Kompromiss zwischen ihrer Begierlichkeit und ihrer Feigheit. 14
In der heutigen Erscheinungsform dieser Geisteshaltung kommen allerdings wie erwähnt unseren Erhebungen zufolge noch einige weitere Merkmale hinzu: Es mangelt in Folge der eben beschriebenen Anspruchshaltung erstens an Dankbarkeit, zweitens an Leidensfähigkeit angesichts des unabänderlichen Schicksals, drittens an Mitgefühl und viertens an Verantwortungsbereitschaft – wobei das letzte Kriterium diese Geisteshaltung wiederum eindeutig in die ursprünglich von Frankl ausgemachten Pathologien des Zeitgeists eingliedert. Ein Mangel an Verantwortungsbereitschaft ist ja gemeinsamer Nenner und Bindeglied zwischen allen bisher beschriebenen kritischen Daseinshaltungen.
Somit scheinen wir hier einem verhältnismäßig neuen psychologischen Phänomen zu begegnen, das in der Regelmäßigkeit seines Auftretens nahelegt, dass wir es tatsächlich mit einer fünften kollektiven Neurose zu tun haben.
Allerdings habe ich dies, gewissermaßen aus Respekt vor der Tatsache, dass Frankls „Pathologie des Zeitgeistes“ so harmonisch in sich abgeschlossen ist, noch nie publiziert oder als Ergänzung zur bekannten „Pathologie des Zeitgeistes“ vorgeschlagen.
6. CYBERPATHOLOGIE (INTERNET UND PSYCHE)
Lukas:Im Gegensatz zu Ihnen, der – wie Sie andeuten – sich aus „Pietätgründen“ scheut, Frankls Zusammenstellung um eine fünfte kritische Zeitgeistströmung anzureichern, habe ich dies längst getan. Ich bin mir ziemlich sicher, Professor Frankl hätte es ebenfalls getan, hätte er die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft noch miterlebt. Ich habe diese fünfte „kollektive Neurose“ mit der grassierenden Cyberpathologie unserer Tage gleichgesetzt. 15
Natürlich gibt es viele verschiedene Lebenshaltungen, die philosophisch und ethisch fragwürdig sind und krisenträchtige Auswirkungen für die Betreffenden und ihr Umfeld haben. Nicht umsonst hat die Logotherapie in ihrer Methodik der „Einstellungsmodulation“ ein therapeutisches Gegenmittel zu einem ganzen Katalog von Fehlhaltungen geschaffen. Um aber von einer Zeitgeistströmung sprechen zu können, müssen ihr sehr große Bevölkerungsteile huldigen. Und das ist mit der Cyberpathologie der Fall. Wir schlagen mit ihr nicht nur ein Kapitel kollektiver Sucht auf, die wie ein Moloch insbesondere die Jugend in ihren Bann zieht. Wir betreten mit ihr auch just jenes Areal, zu dem die von Ihnen genannten Beobachtungen fugenlos passen. Denn bei Süchtigen finden wir immer
1. eine hohe Anspruchshaltung: „Ich brauche das“… „Das steht mir zu …“, „Ich kann das Leben ohne das (Suchtmittel) nicht aushalten …“,
2. eine geringe Dankbarkeit, weil sämtliche Werte am Wahrnehmungshorizont allmählich verblassen und nur noch das Suchtmittel zählt,
3. ein herabgesetztes Verantwortungsbewusstsein, das parallel mit dem Toleranz- 16und Kontrollverlust der Süchtigen einhergeht,
4. eine Überspielung und Vertuschung der Abhängigkeit und Schwierigkeiten mittels erheblicher Lügen- und Selbstbetrugsenergie.
Ich gebe Ihnen absolut recht, dass die beiden Basiselemente „zu wenig angemessene Furcht“ und „zu wenig Ehrfurcht (vor dem verpflichtenden Guten, will heißen: dem Guten, das zu dessen Wertschätzung und zu dessen Weitergabe im Rahmen eigenen Vermögens verpflichtet)“ die Stützpfeiler der Malaise sind. Obwohl der Süchtige eine ausgedehnte Phase des Hineinschlitterns lang genau weiß, dass er menschlich, physisch, sozial, pekuniär bergab rutscht, ist nicht genug Furcht vor dem Abgrund da, um ihn mit aller Kraft und gebündelter „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl) zur Handbremse greifen zu lassen. Gleichzeitig ist zu wenig Ehrfurcht da, Ehrfurcht vor der Kostbarkeit seines Lebens, vor den ihm gewährten Freiräumen und Ressourcen, vor dem Willkommensein in der Welt und Gerufensein durch die Welt, vor der Einladung, sie liebevoll und verantwortlich mitzugestalten … Kaum dringt etwas davon mehr zu seinem betörten Gehirn und seiner umnebelten Seele vor – einzig die Gereiztheit und Ruhelosigkeit leise raunender und immer lauter pochender Entzugsqual dominieren und motivieren den Süchtigen …
Nun hat es Suchterkrankungen von jeher gegeben. Wie konnte es aber zu einem solchen „Massenbefall“ wie der Cyberpathologie kommen? Daran dürften mehrere Faktoren beteiligt sein. Einerseits ist beständiger Fortschritt, kultureller, technischer wie wissenschaftlicher Fortschritt, geistesnotwendig .
In der – nach Maßstäben der Evolution – kurzen Zeit, seit das Menschengeschlecht das Licht der Welt erblickt hat, sind ungeheuerliche Fortschritte erzielt worden. Dass wir inzwischen fähig sind, Atome zu spalten, Informationen drahtlos rund um den Erdball zu schicken oder uns ins All aufzuschwingen, grenzt an Wunder. Tatsächlich sind es Ausstrahlungen des „wundersamen“ Geistes, mit dem wir begabt wurden, und der danach strebt, alles Vorfindliche zu handhaben, seine eigene Intelligenz genauso wie die Früchte der ihn tragenden Erde. Geistiges kennt keine Stagnation, Geistiges ist ununterbrochen in Bewegung, ja, wie Frankl formuliert hat: „Geist ist reine Dynamis“ – Bewegung (nicht im Raum, sondern) im Sein. Fortschritt ist das Fort- und Voranschreiten des Geistes .
Andererseits sind wir Wesen aus Fleisch und Blut, mit einer anfälligen und hinfälligen Physis und einer bunt zusammengewürfelten Psyche, in der die Emotionen und Kognitionen, Lust und Verstand, in einem kuriosen Gerangel miteinander liegen. Dieses „allzu Menschliche“ bremst das „spezifisch Menschliche“ immer wieder ein und umwölkt es mit Irrungen und Wirrungen und nicht zuletzt auch mit Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Folglich kommt alles darauf an, dass beim zügigen Fortschritt der verantwortliche Umgang mit den Neuerungen , die der Fortschritt mit sich bringt, ebenso zügig mithält. Dieser Wettlauf zwischen den Erfindungen des Geistes und der Sensibilität des menschlichen Gewissens rollt seit Jahrtausenden ab; bislang ohne eindeutige Gewinner und Verlierer. Dass jedoch die Erfindungen des Geistes in diesem Wettlauf einen bedenklichen Vorsprung haben, hat bereits Frankl Sorgen bereitet, als er anmerkte, dass weder die althergebrachten Traditionen noch die angeborenen Instinkte den Menschen der Gegenwart mehr (sittliche) Orientierung zu spenden vermögen, und gefährliche Auswüchse („wollen, was andere tun“ bzw. „tun, was andere wollen“) in das entstandene Orientierungsvakuum hineinwuchern.
Ich selbst habe die Erfindungen des Fernsehens, später des Computers, und mittlerweile des Smartphones miterlebt. Die Bildschirmfaszination, das Ergriffensein (im wahrsten Sinne des Wortes) von virtuellen Welten, das Unbedingt-dabei-sein-Wollen in der digitalen Moderne, die stürmische Begeisterung über ungeahnte und nie dagewesene Möglichkeiten … Das alles ist viel zu schnell über uns hereingebrochen, als dass sich irgendwelche Korrekturmechanismen hätten ausbilden können, zumal das bereits vorhandene Orientierungsvakuum solche erschwerte.
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