Der Umschwung wurzelt vermutlich in meiner plötzlichen Entkräftung. Als würde ich es als erschütternde Erfahrung empfinden, mich nicht einmal mehr auf meinen Körper verlassen zu können. Man kann wohl auf jeden Fall sagen, daß ich eine derartige Gewißheit vermisse. Daß ich von diesem Bedürfnis geplagt werde, daß sich jemand meiner annimmt, ich meine, das sollte man doch zumindest verlangen können. Es mag andere Erklärungen geben. Doch ich habe das Gefühl, daß, unabhängig davon, wie viele ich mir ausdenke, sie nicht weniger unzulänglich wären. Mich bloß mehr und mehr zum Narren machen würden.
Die Sache ist doch die, daß ich meine innere Kehrtwendung als ein fait accompli zur Kenntnis nehmen mußte. Ich komme nicht darum herum, daß ich mir nun wünsche, an der Art Lächeln und insofern auch an der Art fröhlicher Bemerkung teilzuhaben, die du so oft an meine Mitpatienten richtest. Ich möchte teilhaben an dem Gefühl, das du ihnen anscheinend gibst, nämlich daß du und die Ärzte mehr tun als eigentlich in eurer Macht steht. Natürlich nicht, uns am Leben zu erhalten. Aber vielleicht unseren Leiden Sinn zu geben. Nein. Auch das kann ich nicht erklären. Es ist einfach so. Ich möchte sympathisch sein. Damit du tust, was du kannst. Es überkam mich wohl, als ich nicht mehr selbst essen konnte. Oder vielleicht begann es schon, als ich Haare und Nägel verlor.
Nun könntest du mit gutem Grund fragen: Warum erzählt er das alles gerade mir? Und ich müßte antworten, daß ich mir nicht einen Augenblick habe vorstellen können, damit bei einem der anderen etwas zu erreichen. Du bist mir sofort ins Auge gefallen, schon als ich eingeliefert wurde. Ich hatte und habe nämlich meinen Sinn für weibliche Schönheit immer noch nicht verloren, was viele ansonsten wohl annehmen müßten. Doch es ist klar, dein Äußeres war es nicht allein, ich erwähne es nur der Vollständigkeit halber, für sich genommen stimmt es ja überhaupt nicht angesichts meines neuen Drangs. In weitaus höherem Maß bewirkt etwas anderes, daß ich an dir festhalte. Etwas anderes an dir, ich weiß nicht was. Wenn es nicht dein dir eigenes Wesen ist.
Ja, schon wieder präsentiert sich dieses Wort, wie eine Mauer, gegen die wir immer wieder mit dem Kopf anrennen, ohne dem näher zu kommen, was sich hinter ihr verbirgt. Auch wenn es wohl das ist, was ich in deinen Augen ahnen konnte und, ein einziges Mal, ganz deutlich, gesehen habe, denn gestern sah ich es, sah es so wunderbar klar, in deinem Lächeln.
Genau das möchte ich wieder sehen! Das, was ich mehrere Wochen lang hervorzubringen versuchte, ohne zu wissen, was es war, völlig ohne Ahnung, wie überirdisch schön es war! Bis gestern, als ich schließlich verstand, daß all meine blinden Bemühungen nicht bloß ineffektiv gewesen waren, sondern vielleicht sogar gegen sich selbst gearbeitet hatten. Daß ich dich damit mehr schikaniert hatte als mit irgendetwas anderem. Ich bitte dich, natürlich, nicht darum, mein Benehmen nun zu entschuldigen, darf aber doch zu erklären versuchen, daß ich es eine Zeitlang für opportun halten konnte, Mittel anzuwenden, die mir im Grunde fern liegen.
Daß es meine Enkelin war, die ich zuallererst zum Gegenstand meines Erzählens gemacht habe, mag vielleicht naheliegend erscheinen, dennoch mußte ich dieses Thema lang im Kopf drehen und wenden, ehe ich mich dazu aufraffen konnte, dir ihre Konfirmation zu Gehör zu bringen. Ich fand ja, ganz abgesehen von jeglicher Forderung nach Wahrheit, daß es zu banal war, was es wirklich auch ist. Auf der anderen Seite dachte ich, wäre es dumm gewesen, nicht zu sehen, wie viel meine Zimmergenossen aus dir herausholen können, indem sie einfach über ihr Familienleben plappern. Kein diesbezügliches Detail ist anscheinend zu unbedeutend, als daß du ihnen deine volle Aufmerksamkeit verweigertest.
Daher mußtest du von diesem großen Ereignis, wie ich gewiß schon sagte, im Leben meiner lieben Enkelin hören. Ich war mir natürlich im klaren darüber, daß es in meinem Fall schon etwas Besonderem bedurfte, daher faselte ich immer wieder von meiner Trauer, sie vielleicht nicht mit meiner Anwesenheit beglücken zu können. Und als du dann einwandtest, daß es bis zur Konfirmationszeit ja noch lange hin wäre, konnte ich keinen anderen Ausweg sehen als von vorne zu beginnen, mit ihrer frühesten Kindheit. Du wirst zweifelsohne noch nicht oft gehört haben, wieviel Vergnügen ein älterer Mann an seiner Enkelin haben kann. Du wußtest wohl auch, daß dies alles gelogen war.
Das muß ich jetzt fast hoffen. Und daran lag es doch wohl auch nicht, daß es überhaupt nicht wirkte? Es ist für dich wohl auch nicht entscheidend, ob die Ergüsse der anderen auf Wahrheit gründen oder nicht? Nein, wenn es ganz und gar nicht wirkte, oder dir nur unwohl davon wurde, mir zuzuhören, dann deshalb, weil du tiefer in mich blicktest als nur so lala. Möchte ich jedenfalls glauben. Dir war klar, daß ich nicht einmal wünschte, all diese Torheiten, von denen ich dir erzählte, könnten wahr sein.
So stellte ich mir deine Position vor. Für meinen nächsten Versuch suchte ich deshalb nach etwas, was meinem eigentlichen Leben näherlag, so daß du auf jeden Fall eine etwaige Andeutung von Unbehagen als authentisch würdest erleben können. Denn ich wußte ja sehr gut, daß der Bericht von meiner Karriere an sich es schwer haben würde, dir mehr als nur ein höfliches Nicken zu entlocken; auch als ich sie ausbaute, ihr Bedeutung über das Privatwirtschaftliche hinaus gab, hatte ich vor Augen, daß sie dich kalt lassen würde, wenn ich dir nicht auch den Eindruck vermitteln könnte, daß ich sie selbst, vielleicht menschlich gesehen, gar nicht so interessant fand. Also fuhr ich fort, du zwangst mich, Bodil, ja ich werfe dir gewiß nichts vor, aber deine neutrale Aufmerksamkeit glich mehr und mehr einem Abwarten, ich meine, einer schwachen Erwartung.
So als würde ich bald und ganz ohne Vorbehalt eine große Leere in meinen beruflichen Siegen gestehen. Deshalb fuhr ich fort, meine Erfolge zu vergrößern. Um schließlich so viel wie möglich von der Leere übrig zu haben. Und als ich dann endlich bereit war, dich mit ihr zu packen, dir all meinen weltlichen Erfolg für zutiefst vergeblich zu erklären, da fürchtete ich zuerst, daß ich schon längst hätte aufhören sollen. Fürchtete, daß es in deinen Ohren eher abschreckend klingen würde, oder bloß komisch? Möglicherweise gelang es mir, meine Pointe so unprätentiös zu murmeln, daß es für dich nicht allzu schwer war, die Fassung zu bewahren. Ein minimales Zusammenziehen deiner Nasenlöcher bemerkte ich. War das vielleicht sogar Ausdruck einer kleinen Enttäuschung? Das war dann wenigstens etwas.
Eine deutlichere Reaktion erhielt ich von meinen Mitpatienten. Sie haben mich seither geschnitten, noch mehr als zuvor, das heißt total. Vielleicht sind sie der Ansicht, daß ein Mann mit meiner fantastischen Karriere jemanden wie sie in keiner Weise gebrauchen kann. Vielleicht hassen sie mich auch, weil ich dir anvertraut habe, daß mir die erreichten Privilegien gleichgültig waren, oder mehr noch, daß ich ihrer überdrüssig war. Sie liegen auf jeden Fall da, als wären die drei allein, als ob hier drinnen wirklich nur drei Betten stehen. Meine Ecke gibt es für sie nicht, auch nicht bei Tagesanbruch, wenn ich ziemlich laut stöhne.
Mein jämmerlicher Zustand war im übrigen das letzte, was ich dir gegenüber als Waffe verwenden wollte. Dein Mitleid zu provozieren, ich fand, daß das zu billig wäre, das werde ich doch wohl noch sagen dürfen. Nicht weil es mir nie recht schwer fiel, mir selbst positive Eigenschaften zuzuschreiben, ganz zu schweigen von edlen, obwohl ich andererseits mit allgemeinem Takt vielleicht nicht so viel geringer ausgestattet war als viele andere, auf jeden Fall als eine ganze Reihe anderer, soweit ich das beobachten und vergleichen konnte. Doch sieh davon einmal ab! Ich fand, daß dein Mitleid zu billig wäre, und zu ordinär, viel zu ähnlich dem, was du wohl fast automatisch jedem anderen gewährst; diesen Hang von dir auszunutzen, hätte dich ja deiner Freiheit mir gegenüber beraubt.
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