Der Oberst war ins Städtchen gegangen, um nach einer Hilfe für den Haushalt zu suchen. Aber er hatte keine gefunden, keine Frau, kein Mädchen. Die brauchbaren waren alle vergeben, hatten ihre Stellen, und jetzt war keine Ziehzeit. In einer gewissen Verzweiflung ging er wieder heim, die Füsse taten ihm weh, stundenlang war er herumgelaufen auf dem holperigen Pflaster, war Treppen gestiegen, die so steil waren wie Hühnerleitern, hatte sich auf dunklen Höfen herumgetastet, von einer Stelle war er zur anderen geschickt worden. Bei der Kaspers war er zuerst vorgegangen: wusste sie vielleicht jemanden? Aber die war ungnädig: nein, sie wusste keinen. Die Stelle so weit draussen war ihr oft unbequem gewesen, sie hatte genug darüber geschimpft, aber gut war die doch gewesen, sehr gut, sie gönnte die keiner anderen.
Den langen Weg von der Stadt nach Haus ging der Oberst in Gedanken versunken. Neben seiner Strasse lief der Fluss. Der hatte ihn oft mit seinem sanften Gleiten beruhigen müssen, es können ja nicht alle Stunden nur angenehme sein in so langen Jahren. Aber heute sah er den Fluss nicht mehr, der Herbstabend nebelte bereits dunkel. Eine verteufelt unangenehme Situation! Wenn die gute Frau Doktor nun nicht mehr voran konnte, wenn es ihr unmöglich war, ohne Magd den Haushalt zu besorgen, und man keine Hilfe bekam — was dann?! Er sah sich schon wieder auf der Wanderschaft, sah sich unterschlüpfen in einem Hotel oder in irgendeiner Pension — wie unbehaglich, wie unpersönlich, ach, wie heimatlos! Ja, eine Heimat hatte er hier gefunden, hier war er nicht Mieter und nicht Junggesell, hier war er Hausherr und Vater. Durch ein Gefühl der Zugehörigkeit war er mit jenen verbunden, die in dem kleinen weissen Hause wohnten. Ein Schrecken, der einem Schmerz glich, überfiel ihn jäh: wenn er sich nun von denen trennen müsste?!
Atemlos kam er zu Hause an, er war stark zugeschritten, in einer plötzlichen Sehnsucht war er fast gerannt. Wie ein freundlicher Stern, ihn vertraut begrüssend, brannte das kleine Lämpchen im Hausflur. Bei seinem Eintritt öffnete sich die Stubentür, und der Frau Doktor noch recht blasses Gesicht lächelte ihn an. Mit jenem sanft-wehmütigen Lächeln, das wie stiller Mondschein auf abgeblühtem Garten war.
»Meine gnädige Frau!« Er war ganz bewegt. Er ergriff ihre Hand und küsste sie: »Gott sei Dank, dass Sie wieder so weit wohl sind! Aber nun Vorsicht! Sie dürfen sich gar nichts zumuten!«
Aber wie sollte das möglich sein? Sie sassen schon lange beisammen im Zimmer mit der blauen Tapete und überlegten. Hans-Helmut war voller Eifer, er hatte den Abendtisch gedeckt und wieder abgedeckt. Auch der Oberst liess es sich nicht nehmen, zu helfen, er trug die Teekanne und das Brot, aber geschickt war er nicht, aus der Kanne vergoss er, das Brot liess er fallen.
Mit einem nervösen Unbehagen sah die Frau den beiden zu. Zehnmal wollte sie aufspringen, aber das litten die nicht. »Sitzen bleiben!« kommandierte der Oberst, und der Sohn rief: »Mutter, aber du sollst doch nicht! Wir machen schon alles.« Müder gemacht von diesem Zusehen und angegriffener, als wenn sie alles selber getan hätte, lag die Frau im Sessel. Nein, so ging es nicht! So würde es niemals gehen! Ungeduldig gemacht durch die übertriebene Besorgnis, und verzagt über die eigene Schwäche begann Frau Doktor zu weinen.
Da klinkte aussen etwas an der noch nicht verschlossenen Haustür. Hans-Helmut lief in den Flur; der war ganz dunkel, aber durch die geöffnete Tür fiel von aussen der Dämmerschein der Nacht. Im Türrahmen stand eine Gestalt, umflossen von dem nächtlichen Licht. Maria Kaspers Stimme erfüllte den Flur mit ihrem lauten: »Guten Abend zusammen!«
Sie hatte es von der Mutter gehört, dass Frau Doktor krank geworden war und wegen einer Hilfe in Not. Ihr wäre es recht, hier den Haushalt zu schaffen, wenn Frau Doktor es wollte.
Ob die wollte! Mit einem Erlösungsseufzer hob die Frau das Gesicht aus dem Taschentuch, sie fiel dem Mädchen um den Hals, genau wie damals, als Maria ihr den Jungen aus dem Fluss gebracht hatte. »O Maria, du nimmst mir eine Last von der Seele!«
»Ach ja,« sagte der Oberst, »das wäre gut!« Sein eben noch so sorgenvolles Gesicht war gleich erhellt. »Kommen Sie zu uns, es soll gewiss Ihr Schade nicht sein. Sorgen Sie, dass Frau Doktor sich nicht mehr übernimmt.« Ja, die würde den Haushalt spielend schaffen, das sah er, die hatte Jugend und Kraft und guten Willen.
Das Licht der Hängelampe fiel hell auf Maria Kaspers. Da stand sie in ihrem sauberen Kattunkleid, eine weisse Schürze vor dem vollen Busen, aus den Ärmeln, die nur bis zum Ellbogen reichten, guckten die Arme heraus, drall und doch sehnig. Blühend waren ihre Wangen, eine schönes warmes Rot lag auf ihnen; an ihre Schläfen schmiegte sich das Haar in weichen Ringeln und war hinten aufgesteckt zu einem reichen Flechtennest.
Mit weitgeöffneten Augen stand Hans-Helmut; er sagte kein Wort.
Ruhig stellte Maria Kaspers ihre Bedingungen. Billig war sie nicht, das war natürlich, sie war arm und sie musste verdienen; aber der Oberst hätte ihr willig doppelt so viel zugesagt als sie verlangte, er war ja zu froh, dass sie kam. — —
Und nun war sie hier, als sei sie seit vielen Jahren Tag und Nacht im Hause gewesen. Ein Eingewöhnen war nicht nötig, man war sich ja schon vertraut. Das Mädchen hatte eine Art, die selbstsicher war, ohne dreist zu sein; anfänglich war die der Frau Doktor manchmal befremdend gewesen, nun war sie längst daran gewöhnt. Sie musste bei ihrer Schwäche so manchesmal die Hilfe der jungen Kraft in Anspruch nehmen, dass sie nicht mehr daran dachte, dass sie die Herrin war und jene die Dienerin. Willig liess sie Maria Kaspers bestimmen, sie wusste, die machte alles verständig und gut. Ach, wie wohl tat es auch, die beiden Männer so gut versorgt zu sehen! Der Oberst hatte nie mehr zerrissene Strümpfe, seine Stiefel waren stets spiegelblank, sein Rasierwasser bekam er immer warm und zu gleicher Minute, sein bester Bursche war nicht pünktlicher gewesen. Der Oberst sprach sich höchst anerkennend über Maria aus. Nur Hans-Helmut schwieg. Und die beiden waren doch, als er noch ein Kind war, so gut Freund miteinander gewesen! Die Mutter glaubte im Sohn einen leisen Widerstand zu spüren. War das etwa Eifersucht von ihm? Oh, von ihrer Liebe konnte ihm Maria niemals etwas nehmen, die Liebe, die gehörte ihm ganz allein, aber man musste doch gerecht sein und anerkennen, was anzuerkennen war. Wenn sie lobte: »Das hat Maria gut gekocht,« so sagte er: »Du hast es noch besser gekocht.« Wenn sie nach dem Essen auf dem Sofa gebettet lag, dem Mädchen, das ihr die Füsse sorglich einpackte und ihr das Kissen unter den Kopf schob, so bequem, wie es kein anderer zu machen verstand, mit dankbarem Lächeln zunickte, ging er aus dem Zimmer. Das bekümmerte die Mutter. War es nicht fast, als träte etwas zwischen sie und ihr Kind, als wäre Fremdes im Sohn, das sie nicht mehr kannte?! — —
Es war heute ein ganz stiller Nachmittag, stiller noch als sonst. Es schneite. Lautlos fielen grosse weisse Flocken und zerschmolzen im aufgetauten Erdreich. Maria war in den Ort gegangen zu ihrer Mutter, der Baron spaltete hinterm Haus Holz, das tat er seiner Gesundheit wegen, um nicht Fett anzusetzen; und auch der Ersparnis wegen. Er und die Maria kriegten die Klafter schon allein klein, man brauchte nicht Stundenlohn zu zahlen.
Hilde Arndt sass am Nähtisch, heute hatte sie einen guten Tag, sie konnte etwas schaffen, und das machte sie froh. Sie fühlte sich überhaupt in letzter Zeit kräftiger, das verdankte sie allein der Maria. Wie die für sie sorgte! Am liebsten sollte sie gar nichts anfassen. Und immer willig war Maria, es wurde ihr nie etwas zuviel. Wenn dieses Mädchen nicht ins Haus gekommen wäre, wo wäre sie dann jetzt wohl —?! Eine grosse Dankbarkeit erhob sich in der Seele der Frau, denn, ach, eine Weile möchte sie doch noch leben, so lange noch, bis Hans-Helmut sein Studium hinter sich hatte, bis er eine Stellung bekleiden konnte, in der er vorwärts kam im Leben. Dann wusste sie ihn geborgen. Denn der Baron würde ja auch nicht ewig leben, wenn er auch viel gesünder, viel kräftiger war als sie. Sie waren beide schon alte Leute. Und wenn sie nun doch schon eher fort müsste —?!
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