„Wir wollen für den Augenblick nicht mehr von Geschäften reden,“ sagte sie plötzlich. „Sie sollen mich heute abend wieder an irgend einen hübschen, ruhigen Ort führen, irgend wohin, wo uns gar nichts belästigt oder zwingt, an die Wirklichkeit zurückzudenken. Bleiben Sie hier, ich will mich rasch fertig machen. Was die Leute dazu sagen? Ganz einerlei, wir gehen zusammen aus. Was brauchen wir, Sie oder ich, uns denn um solches Pack zu kümmern? Arme Leute! Sie haben nichts zu thun als zu klatschen, die schnatternden Dummköpfe! Warten Sie! Ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen durch mein Aussehen Ehre zu machen.“
Nach ganz kurzer Zeit erschien sie wieder und sah in der That wundervoll aus, und zwar bin ich überzeugt, dass der Höhegrad meiner Bewunderung nicht nur durch meine Ueberschwenglichkeit bestimmt wurde, sondern dass neun Männer unter zehn mit mir übereingestimmt hätten. Sie hatte ein mit möglichster Einfachheit gearbeitetes, dunkelgrauseidenes Strassenkleid angezogen, dazu trug sie um Hals und Hände schlichte Streifen aus weisser Leinwand und lavendelfarbene Handschuhe. Ihr kleines, fest anschliessendes, ohne Bindebänder befestigtes Hütchen zeigte als einzigen Schmuck eine Marschall Niel-Rosenknospe. Eine dunkle, wollige Jacke, die offenbar von einem geschickten Schneider gemacht war, und ein Schirm, zu gross für einen Sonnen- und zu klein für einen Regenschirm, vervollständigten ihren Anzug.
„Für manches ist es noch zu früh, für andres zu spät, Jack, zu spät am Tage und zu spät in der Jahreszeit. Wir wollen zuerst an einem anständigen und doch nicht allzu langweiligen Ort zu Mittag essen.“
Einen Ort vorzuschlagen, der anständig und doch nicht langweilig war, überschritt die Grenzen meiner Erfahrung, und dies sagte ich ihr ehrlich.
„Dann überlassen Sie es mir.“
Sie führte mich in den St. Jameser Distrikt, in einen Gasthof mit einem öffentlichen Kaffeezimmer, wo man Table d’hote oder à la carte speisen konnte. Es war ein hübscher Raum, der nichts vom Restaurationslokal und nichts Ueberladenes an sich hatte; in ruhigen Farben gehalten, grossenteils mit Wachskerzen erhellt, machte er einen ausgesprochen englischen Eindruck.
„Ich werde alles bestellen,“ sagte sie. „Sie sollen sehen, welch unendliche Fähigkeiten zu grossen Thaten in mir erwachen, sobald der Wind aus Westen weht.“
Ich wiederhole die Speisenfolge nicht aus dem Gedächtnis, sie wurde von ihr auf eine zierliche Karte geschrieben, die ich mitnahm und noch heute sorgfältig aufbewahre — nicht weil ich ein Brillat Savarin bin, sondern weil mir die Erinnerung an dieses Diner oder vielmehr an die Veranlassung dazu wichtig ist. Wir hatten Austern, Frühlingssuppe, Soles au vin blanc, Cotelettes à la Soubise, Rebhuhn, Salat, Omelette, Reispudding, Trauben und Parmesanbiskuits. Der einzige Wein war Rheinwein, der schon mit den Austern erschien, und danach gut gekühlter 68er Sekt, Perrier Jouet. Gern überlasse ich die Beurteilung dieses Menüs solchen, die mehr davon verstehen als ich.
Von da, wo wir assen, ist es nur eine kurze Fahrt nach der Alhambra, dem Londoner Versuch eines Trokadero. Dorthin gingen wir und nahmen eine kleine Loge für uns, wo ich rauchen und Susan eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Gläschen Chartreuse geniessen konnte.
Die Alhambra bot uns diesen Abend ihr gewöhnliches Programm, oder besser gesagt, ihre gewöhnliche Abwechselung: fremde Sänger, Akrobaten und Ballett.
Als wir die Alhambra verliessen, rief ich einen Wagen und hiess den Kutscher mich früher absetzen und dann Mrs. Brabazon vollends nach Hause fahren. Da es voraussichtlich seine letzte Fahrt war in dieser Nacht, fuhr er langsam, um seine Pferde für den andern Tag zu schonen.
„Sie sind zu den Juden gegangen, Sie schlechter Junge, Sie,“ begann Susan, sobald das Pferd sein regelmässiges Stossen begonnen hatte und wir aus dem geräuschvollsten Verkehr hinausgekommen waren.
„Und, und wenn auch? Das ist meine Sache.“
„Nicht so ganz allein Ihre Sache, denn jedenfalls sind Sie mir so wert, dass ich Ihnen sagen muss, dass alles, was Ihrer Zukunft im Wege steht, einen Schatten auf den Rest meines Lebens werfen würde. Kommen Sie. Es ist nichts unheilbar als die Ehrlosigkeit, und eine solche zu begehen, sind Sie nicht fähig. Sagen Sie mir alles.“
Ich gehorchte ihrem Befehl und „sagte ihr alles“, so gut ich es vermochte. Die Erzählung war etwas unvollkommen, mit Ausnahme der Zahlen, deren ich mich natürlich ganz genau entsann. Als ich zu Ende war, nahm sie meine rechte Hand in ihre linke und streichelte sie sanft mit der andern.
„Haben Sie mir wirklich die ganze Wahrheit gesagt? Haben Sie mit nichts zurückgehalten? Bitte, täuschen Sie mich nicht, sonst werde ich Sie nie mehr bitten, mir zu vertrauen.“
„Auf Ehre, Susan, ich habe Ihnen alles gesagt, bis auf den letzten Heller.“
„Dann ist’s gut! Thun Sie aber in dieser unseligen Sache keinen Schritt mehr, ohne es mir vorher zu sagen. Natürlich sind Sie vor der Hand gebunden und insoweit sicher. Ich glaube, Sie werden es leichter finden, ins Netz zu laufen, als wieder herauszukommen, aber wir wollen sehen, was sich machen lässt. Und nun wollen wir von etwas anderm sprechen.“
Somit sprachen wir von etwas anderm, bis es Zeit wurde, unser getrenntes Nachhausekommen ins Werk zu setzen. Als ich nach einer Viertelstunde der Einsamkeit und des Nachdenkens heim kam, war alles dunkel im Hause. Dass ich mich eines gesunden Schlafes erfreute, versteht sich von selbst.
Am andern Morgen erschien Mrs. Brabazon nicht zum Frühstück, deshalb schlug ich den Weg nach dem Flusse ein und bediente mich des Dampfbootes, als der besten Gelegenheit, die in London zu haben war, mir einen annähernd frischen Lufthauch zu verschaffen, wenn man sich nicht an so abgelegene Orte, wie z. B. Primrose Hill, begeben will.
Das Boot brachte mich nach Temple Pier. Mein Anwalt verhielt sich offenbar meiner Abwesenheit gegenüber gänzlich gleichgültig. Jedenfalls machte er keine Bemerkung darüber, sondern händigte mir, nachdem er geäussert, es sei heute schönes Wetter, eine Anzahl Fragestücke ein, die ich entwerfen und dann seinem Gutachten unterbreiten sollte; auf die Rückseite der Papiere hatte er mit Bleistift einige orakelhafte, unleserliche Hinweise auf „Adolphus und Ellis“, „Petheram über Verhöre“ und „Mason und Welty“ geschrieben. In diese Arbeit stürzte ich mich, wenn auch nicht con amore, so doch mit dem unbestimmten Gefühl, dass sie eine Abwechselung sei. Als ich damit zu Ende war und die huldvolle Versicherung empfangen hatte, dass die Arbeit mir zur Ehre gereiche, entwich ich ins Freie.
Es war noch früh am Tag, und mein erster Gedanke war, im Bewusstsein, tugendhaft eine Tagesarbeit vollbracht zu haben, zurückzukehren und zu versuchen, ob ich nicht Mrs. Brabazon wieder zu einem Ausflug bringen könne. Allein in gewissem Sinne war es ihr gelungen, mir bange zu machen, und meine Liebe zu ihr, so vollkommen dieselbe auch sonst gewesen sein mag, war nicht von der Art, die Furcht ausschliesst. So fand ich den Weg in einen Billardsaal in Holborn, wo ich ohne grosse Schwierigkeiten mit Spielen und Wetten auf meine Stösse einige Sovereigns gewann. Zu ziemlich früher Stunde machte ich mich auf den Heimweg, von der Ueberzeugung durchdrungen, ich sei ein Muster aller Tugenden, und die Brust von den unbestimmtesten und kühnsten Hoffnungen geschwellt.
Ich wollte Advokat werden und wie ein Meteor vor den Schranken des Gerichtes erscheinen. Ich wollte eine Jacht halten und während der langen Ferien mit Mrs. Brabazon in derselben kreuzen. Ich wollte ins Parlament kommen (thatsächlich wusste ich in diesem Augenblick nicht, ob ich Tory oder Whig, Liberaler oder Radikaler oder gar Homeruler war) und daran schlossen sich ganz unklare Gedanken und die Vision eines Wollsackes b): Si jeunesse savait! Si vieillesse pouvait!
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