„Scherrit. Zügel lang, Pferde loben!“ Ein allgemeines Aufatmen. Anne rückte sich zurecht und warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Nein, es war nicht leicht, es war sogar höllisch schwer, viel, viel schwerer, als sie das von ihren Versuchen auf der Koppel gedacht hatte.
„Noch einmal: Zügel aufnehmen. Im Arbeitstempo – Terrab! Nein, sitzen bleiben jetzt, aussitzen, nicht leicht reiten, Margot. Aussit – sitzen! Karl, mach die Beine lang, du sitzt ja wie ein Affe auf dem Schleifstein! Peter, nimm dir Zeit – herrje, er läuft dir ja davon! Das nennt ihr reiten? Das ist nicht mal oben sitzen, das ist höchstens oben hängen !“
Allmählich fühlte sich auch Anne der Verzweiflung und dem Aufgeben nahe. Eine Runde nach der andern deutschen Trab. Hatte Reuter denn kein Erbarmen? Noch einmal herum und noch einmal. Es warf sie, dass sie glaubte, sich nicht mehr halten zu können. Die Beine, die sich an das Pferd klammerten, schmerzten und begangen nachzulassen ...
Endlich, endlich das ersehnte Kommando: „Scherrit!“
Während sich die Neulinge zurechtsetzten, die Bügel wieder zum Ballen vorschoben und sich verstohlen übers Haar fuhren, musterte der Reitlehrer seine Abteilung kritisch.
„Peter, du machst einen Rücken – so! Gerade sitzen, Schultern zurück, Kreuz anspannen. Karl, du knickst in den Hüften ab. Und Fräulein Margot ...“
Margot biss sich auf die Lippe. Wenn er „Fräulein“ sagte, dann wurde es ernst.
„Na, was haben wir falsch gemacht?“
„Alles!“, sagte sie und lachte schon wieder. Nun war es egal.
„Na, gut, dass wir’s einsehen. Schluss für heute. In Abständen rechts aufschließen.“
Anne knickte in den Knien ein, als sie absprang. Du lieber Himmel, jeder einzelne Knochen tat weh! Man merkte bei dieser Gelegenheit erst, wie viel Knochen der Mensch eigentlich hat. Sie suchte in den Taschen nach Zucker.
„Brav bist du, mein Satan, brav! Brav!“
„Nun, haben wir die Nase voll, Fräulein Angelika?“, fragte Reuter herantretend.
„Danke, es reicht für heute, Herr Kornelius“, gab Anne wütend zurück. Dass er wieder davon anfing!
„Verzeihung. Ich meinte Fräulein Anne“, sagte er, als er ihre zornfunkelnden Augen sah. „Haben Sie genug? Oder kommen Sie wieder?“
„Natürlich komm ich wieder“, sagte Anne mit gesenktem Kopf. Dann hob sie mit einem plötzlichen Entschluss die Augen.
„Schinden können Sie mich, soviel Sie wollen. Hauptsache, ich lerne was. Aber das mit dem Namen ...“
„Kommt nicht mehr vor“, sagte er freundlicher. „Nun führen Sie Ihren Satan hübsch hinaus. Und übermorgen um dieselbe Zeit – vielleicht wagen wir uns da schon an einen kleinen Galopp? Wie wär’s?“
„Rrrrrrr!“, surrte der Wecker. Margot brummte und angelte mit der Hand nach dem Störenfried, um ihn unter die Bettdecke zu stopfen. Dort randalierte er noch eine Weile, gab dann als der Klügere nach und verstummte. Anne hatte ihn auch gehört, aber sie war so müde, so müde ...
Es war gerade vier. Und heute am Sonntag könnte sie noch anderthalb Stunden schlafen. Wenn sie halb sechs zur Milch lief, genügte es. Aber ...
Huh, es war schwer, nicht schwach zu werden. Aber sie hatte sich so fest vorgenommen –
„Margot!“, rief sie halblaut.
Aber Margot hörte nicht. Sie lag tief ins Kissen gewühlt und schnarchte schon wieder. Anne warf das Deckbett weg und tappte zum Fenster.
Nein, sie ging nicht wieder ins Bett. Wenn sie sich beeilte, konnte sie heute füttern und putzen helfen. Schwankend vor Müdigkeit taumelte sie ins Bad.
Das eiskalte Wasser machte munter. Und draußen war so herrliches Wetter. Sie zog sich schnell an und rannte in die Milchküche hinüber. Wenn nur die Milch nicht später kam als sonst!
Aber Margot hatte Recht: Tag für Tag, Sommer wie Winter, wochen- wie feiertags taten die Melker ihren Dienst, ohne eine halbe Stunde Verzögerung. Anne drehte den Separator auf und füllte nach – ja, dagegen hatte sie es fürstlich!
Sie achtete sorgfältig darauf, dass alles, aber auch alles in Ordnung ging. Die Königin war trotz aller Strenge menschlich, aber der Chef! Vor dem sauste auch dem tüchtigsten Verwalter der Frack, wie Margot sagte, ihm entging nichts. Anne maß das Lab im Probiergläschen genau ab und rührte es unter die Magermilch, schüttete die geronnene Milch vom Tag zuvor in den Quarksack. Und die Sahneeimer mussten genau in einer Reihe stehen, sie visierte, während sie ein Auge zukniff. Sicher machte der Chef ausgerechnet heute eine Inspektionsrunde. So, fertig. Nein, sie bereute nicht, so früh aufgestanden zu sein! Nun hatte sie frei – gefrühstückt wurde sonntags erst um halb neun.
Margot lag wahrhaftig noch in den Federn. Anne gab ihr einen Puff.
„Verschlaf bloß nicht. Ich lass die Hühner noch heraus, ehe ich gehe“, rief sie ihr ins Ohr.
„Mhm. Wohin gehst du denn?“
„Mensch, wohin wohl. Ins Schloss! Wehe, wenn du weiterpennst!“
Der Tau blitzte in der Sonne, als sie durch den Park radelte. Sie hatte noch rasch an Hertas und Erikas Tür gebummert, damit sie aufstanden und den Hühnern das erste Frühstück gaben. Wenn Margot nun noch eine halbe Stunde länger schlief, schadete das nichts. Eine von den beiden würde sich wohl aufrappeln.
Wirklich, die Königin war listenreich! Bisher war noch nichts verbummelt worden, kein Essen versalzen, kein Milchdienst verschlafen, kein Hühnerfutter vergessen. Oft saßen die Mädel noch lange nach Feierabend alle zusammen in der Küche und schälten Kartoffeln oder putzten Gemüse für den nächsten Tag. Niemand trug ihnen das auf. Aber es konnte doch sein, dass es Herta oder Erika sonst am nächsten Vormittag nicht schafften. Im Milchraum blitzten die Geräte und im Hühnerstall hätte man vom Fußboden essen können, so sauber sah es aus.
„Lauter neue Besen. Hoffentlich kehren sie auch weiterhin so gut“, hatte Frau König gestern nach dem Samstagrundgang gesagt. Das bedeutete ein großes Lob, Margot behauptete das befriedigt. Und die anderen glaubten es nur zu gern.
Alfred und Hannes, die beiden Pferdeknechte, waren schon bei der Arbeit, als Anne, im Schloss angelangt, in den Stall flitzte. Sie band ihre grüne Gartenschürze um, die sie sich zu Hause noch selbst genäht hatte – einfach ein viereckiges Stück Stoff mit abgeschrägten Ecken und Kreuzbändern. Solche brauchte man im Stall, hatte sie ihrer Mutter gesagt und damit durchaus nicht an Hühner- oder Entenställe gedacht.
„Na, Fräulein Anne, wollen Sie zugucken?“, fragte Alfred lachend.
„Nein, im Gegenteil!“ Sie krempelte die Ärmel hoch, die gar nicht vorhanden waren, und tat, als spucke sie in die Hände. „Bitte, stellen Sie mich an, ich kann leider nur sonntags hier helfen.“
Alfred war schon alt, er hatte nicht mehr allzu viele Zähne im Mund, aber ein gutmütiges, von tausend Fältchen durchfurchtes, wetterbraunes Bauerngesicht. Anne hatte heimlich ein Päckchen Tabak an den Platz gelegt, wo er immer frühstückte. Hoffentlich freute er sich. Jetzt folgte sie voller Eifer seinen Anordnungen.
Ach, es war herrlich, so im Stall herumzuwirtschaften! Wenn das Wasser so hell und zischend in den Eimer lief, bekam man selbst Appetit auf einen frischen Trunk, und wie rührend sah es aus, wenn die Pferde ihren Durst stillten! Sie tranken bedächtig, sahen mit den großen, sanften Augen vor sich hin, tranken und tranken. Und hinterher tropfte es von ihren Mäulern, und sie blickten einen so dankbar an. Und dann, wenn sie sich über ihr Futter hermachten! Erst bliesen sie darüber hin, um zu sehen, ob Häcksel unterm Hafer war – so schlau waren sie. Und wie herrlich roch das Heu, wenn man es heranschleppte!
Anne war so voll Eifer, dass sie gar nicht merkte, wie Reuter eintrat. Sie trug gerade Stroh herbei und ließ sich zeigen, wie es im Stand ausgebreitet wurde, nicht zu dicht, nicht zu sparsam, und vor allem, ohne die Pferde zu erschrecken oder ihnen gar wehzutun.
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