W. E. Norris
Mein Freund Jim
Roman
Autorisierle Uebersetzung aus dem Englischen
Saga
Ich entsinne mich des ganzen Vorgangs so deutlich, als ob er gestern nachmittag stattgefunden hätte — merkwürdig, wie einzelne, an sich weder bedeutsame, noch folgenschwere kleine Scenen es fertig kriegen, sich unserm Gedächtnis einzuprägen und darin zu haften, indes hundert andre im Lauf der Jahre verblassen und verschwinden. Als ich vorhin die Augen eine Weile zudrückte, sah ich alles wieder vor mir: das dunkle, muffig riechende Studierzimmer, in das ein breiter Sonnenstrahl in gerader Linie hereinfällt; Bracknell, Jim und ich stehen nahe bei einander vor dem hohen, leeren Kamin; der alte Lord Staines sieht mit einer Blume im Knopfloch und einem heiteren, behaglichen Lächeln auf seinem schönen Gesicht ungemein vornehm und weltmännisch aus (was er zu jener Zeit immer zu thun pflegte), und mein Lehrer blinzelt hinter seinen Brillengläsern und richtet wie gewöhnlich seine Worte an keinen von uns im besondern.
„Es thut mir leid, diese drei Burschen zu verlieren,“ sagte er. „Sie sind, alles in allem genommen, keine üblen Gesellen, und werden es voraussichtlich in der Welt zu etmas bringen, gerade wie in Eton, ja ungefähr auch in derselben Weise. Bracknell — nun ich wüsste nicht, was man mehr von ihm verlangen könnte, als dass er unter den Elfen a) ist, und dabei ernstlichen Gefahren aus dem Weg zu gehen wüsste. Er ist ein hübscher, gutmütiger Bursche, und von Zeit zu Zeit habe ich sogar Spuren von — nun ja von Intelligenz bei ihm wahrgenommen. Bracknell kann so bleiben; er wird seiner Stellung Ehre machen. Was dann Maynard betrifft, so ist er gescheit, wenn auch nicht in dem Mass, als er selbst es glaubt. Zu einem Denkmal wird er’s schwerlich bringen, aber ich hoffe, seine Mutter wird sich nie an ihm zu schämen brauchen, und ich habe ihr geschrieben, dass ich ihn als meinen Paradezögling betrachte. Das ist vielleicht etwas zu viel gesagt, keinenfalls laufe ich aber Gefahr, dass meine Mitteilung bezweifelt wird. Nun und dann haben wir noch Leigh,“ der Professor trat ein paar Schritte näher und klopfte Jim auf die Schulter, „ja, was lässt sich denn eigentlich von Ihnen sagen, Leigh? In den alten Sprachen sind Sie mittelmässig, in der Mathematik, soviel ich weiss, ebenfalls, unter den Elfen sind Sie auch nicht, und dass Sie unter die Acht gekommen sind, danken Sie, glaube ich, mehr Ihren zahlreichen Freunden als Ihrer Geschicklichkeit. Also kurzum mittelgut, Jim Leigh, und trotzdem der Beste von allen! Und deshalb möchte ich Ihnen fast prophezeien,“ fügte unser Mentor hinzu, indem er den jungen Riesen, der um mehr als eines Hauptes Länge über ihn emporragte, mit einem eigentümlichen, freundlichen Lächeln ansah, „dass es Ihnen nie an Freunden fehlen wird, Leigh, und dass Sie Aussicht haben, Ihr lebelang mehr oder weniger — hm — missbraucht zu werden.“
Bei dieser einigermassen cynischen Prophezeiung brach Lord Staines in ein herzliches Lachen aus. „Wir werden uns schon seiner annehmen,“ sagte er, „wir wollen sorgen, dass Ihnen kein Unrecht geschieht, Leigh.“
Ich bin überzeugt, dass Lord Staines sich für vollständig befähigt hielt, solches zu thun, und doch hätte ein Unparteiischer, der den eignen Lebensgang desselben gekannt, ihn schwerlich für den geeigneten Mann gehalten, eine derartige Aufgabe zu vollbringen. Er hatte von jeher einen wohlgemeinten, etwas gönnerhaften Anteil an Jim genommen, der Vater und Mutter früh verloren hatte, dessen bescheidener Grundbesitz an seinen ausgedehnten in Berkshire grenzte und der vor allen Dingen der Freund seines Sohnes war. Er hielt ziemlich grosse Stücke auf ihn und war so gütig, dies hie und da auszusprechen; die Bemerkung des Professors, dass „Jim der Beste von allen“ sei, nahm er jedoch selbstverständlich als Scherz. Aber selbst wenn jemand in vollem Ernst die Behauptung aufgestellt hätte, dass Jim seinem Sohn überlegen sei, würde Lord Staines schwerlich böse geworden sein. Wenn man selbst im glücklichen Besitz eines edlen Rassepferdes ist, so gönnt man dem andern ja wohl die harmlose Freude, seinen behäbigen, fleissigen Ackergaul für das wertvollere der beiden Tiere zu halten.
Der arme, alte Lord Staines war von einer thörichten, närrischen Vaterliebe. Ich habe diese Ansicht mit solch langweiliger Einstimmigkeit aussprechen hören, dass ich den Satz sicherlich bestreiten würde, wenn auch nur die leiseste Möglichkeit dazu vorhanden wäre. Da dies nicht der Fall, will ich wenigstens auf alles das aufmerksam machen, was zu seiner Entschuldigung dienen kann, und ich glaube mit vollem Recht behaupten zu können, dass auch ich stolz sein würde auf einen Sohn, der so hübsch und gewandt, so unerschrocken und fröhlich, so übermütig und jugendfrisch wäre, wie Bracknell es in jenen Tagen gewesen. Es lässt sich ja streiten, ob gerade diese Eigenschaften zu väterlichem Stolze berechtigen, aber es lässt sich nicht in Abrede ziehen, dass sie dieses Gefühl in der Regel hervorrufen. Dabei muss freilich zugegeben werden, dass Lord Staines’ Prahlen und Sichbrüsten etwas Herausforderndes hatte, und es ist begreiflich, dass seine Freunde es zum Teil komisch, zum Teil widerwärtig fanden. So oft eine Cricketpartie stattfand, las er so viele alte Kameraden auf als thunlich und schleppte sie nach Eton, um seinen Wunderknaben kämpfen und siegen zu sehen. Er wurde dieses entzückenden Anblicks niemals müde, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass die Sache für andre allmählich an Reiz verlieren könnte. Bracknells Kasse war selten leer, und der Vater lachte gutmütig über die Geschwindigkeit, mit der das Taschengeld erneuert werden musste. Ich glaube, dass selbst die etwas langen Rechnungen, die von Zeit zu Zeit von den Geschäften in Eton und Windsor einliefen, ihm wenig Sorge machten, auch wenn die Absender ergebenst zu bemerken sich erlaubten, dass sie drei Jahre nicht bezahlt worden seien. Auch er war seiner Lebtage sorglos, freigebig und leichtsinnig gewesen; vermutlich fand er es nicht mehr als billig, dass sein Sohn und Erbe ebenso geartet, und wenn er je gelegentlich bedachte, dass die Verschwendung zweier Generationen auf ein nicht allzu glänzendes Vermögen nachteilig wirken müsse, so sagte er sich ohne Zweifel, dass Bracknell eine reiche Frau heiraten und dadurch alles wieder in Ordnung bringen werde. So hatte er es dereinst gemacht und die Sache war vorzüglich ausgefallen, das heisst, er war zu der Zeit, von der ich spreche, noch nicht am allerletzten Schilling des Vermögens seiner Frau angelangt.
Am letzten Tag von Bracknells Schulzeit lagen ihm aber sicher derartige Betrachtungen überhaupt fern, denn er strahlte förmlich vor Wohlwollen und Selbstzufriedenheit. Als es Zeit war, Abschied zu nehmen, drückte er uns beiden herzlich die Hand und versicherte Jim und mich wiederholt, dass wir uns nicht einfallen lassen sollten, an ein Ende unsrer Freundschaft zu denken, weil unsre Lebenswege nun äusserlich auseinander gingen — Bracknell sollte nämlich sofort in das Leibgarderegiment eintreten, indes Jim und ich unsre Studien regelrecht in Oxford fortsetzen wollten.
„Wir sehen uns ja in Bälde wieder, in Staines Court natürlich. Wann eigentlich? — ja im nächsten Herbst vielleicht noch nicht, weil ich ziemlich lang in Schottland oben bleiben werde, aber dann sicher irgend einmal jedenfalls. Und Bracknell wird nach Oxford hinunterfahren und sich nach euch umsehen. Aber warum wollt ihr nicht zu uns nach Schottland kommen? Sind die jungen Herren Jäger? Was, noch nie auf der Jagd gewesen? Nun, jedes Ding muss einmal versucht werden, Bracknell ist für sein Alter ein tüchtiger Schütze. Also wir erwarten euch, abgemacht, und nun lebt wohl, meine lieben Jungen, lebt wohl!“
Damit eilte er, Bracknell mit sich nehmend, davon und hatte vermutlich unser beider gesamte Existenz in der nächsten Viertelstunde vergessen.
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