Fast angstvoll hafteten ihre fragenden Augen auf dem Antlitz der Schwester.
Die blickte anfangs verblüfft, dann aber machte sie eine ungeduldige Bewegung. „Scheinst ja reichlich sentimental, meine liebe Resi, heutzutage müssen junge Mädchen praktisch denken, mache dir die Weisheit auch zunutze.“
Ohne noch eine Silbe zu verlieren, kleidete sich Resi aus und legte sich nieder. Sobald auch Erna im Bett lag, drehte sie das elektrische Licht ab. „Gute Nacht!“ sagte sie leise und gewohnheitsmässig.
Erna kicherte. „Dachtest wohl, der Professor wäre was für dich? Ehrlich zugegeben, würde er vielleicht auch besser zu dir als zu mir passen, aber eigentlich wärest du durch deine Geburt auch nicht standesgemäss für ihn.“
Resi fuhr im Dunkeln mit der Hand über die Augen, die plötzlich schmerzten, als sässen brennende Tränen dahinter.
„Ich kenne den Professor kaum und pflege nicht an die Person jeden Mannes, der mir begegnet, gleich Heiratspläne zu knüpfen.“ Sie schluckte ein paarmal. „Weshalb du mir aber meine Geburt vorwirfst, begreife ich nicht. Deine Eltern haben mich aufgenommen, ohne sich daran zu stossen, und ich dächte, es wäre keine Schande, das Kind armer Bauern zu sein.“
Erna antwortete nur durch unterdrücktes Kichern. Sie musste ja schweigen, hatte es der Mutter gelobt — aber das Schweigen fiel ihr schwer.
Resi lag noch lange wach. Sie wusste nicht recht, was sie gar so sehr bedrückte. War es die Kluft, die sich seit kurzem immer weiter zwischen ihr und der jungen Pflegeschwester auftat, oder war es Bedauern mit dem Professor, den Erna zum Zielpunkt eines Ränkespiels ausersehen?
Resi hätte weinen mögen, unaufhaltsam weinen — und unterdrückte doch die Tränen. Was ging sie der Professor an, der fremde Mann? Uebermüdet fand sie erst gegen Morgen den ersehnten Schlummer.
Sie schlief noch, da sassen der alte Doktor Ernstmann und sein jüngster Sohn sich schon am Frühstückstisch gegenüber.
Der alte Herr fragte: „Nun, Martin, wie hat es dir denn bei den Fabers gefallen?“ Und ohne Antwort abzuwarten: „Nicht wahr, ganz liebe, aber ein bisschen oberflächliche Menschen, nach meiner Ansicht hat nur die älteste Tochter einen gediegenen Fundus in sich.“
Martin Ernstmann wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. „Mir machte die Jüngere einen gediegeneren Eindruck, die Aeltere tanzte unablässig.“ Er lächelte sinnend. „Weisst du, Vater, als ich sie so tanzen sah, musste ich an die sagenhaften Willis denken.“
Der alte Herr rückte mit den Schultern. „Sagenhaften Willis? Mein lieber Junge, davon habe ich noch niemals etwas gehört.“
Der Professor strich sich ein Brot und erklärte: „Willis sind die Geister junger toter Mädchen, die auf Erden allzugern tanzten und selbst im Grabe keine Ruhe finden können. Tanzwut treibt sie des Nachts aus der kühlen Erde, lässt sie in wildem, verzücktem Taze über den Friedhof hinschweben. Heidi! Lustig dahin über Gräber und Leichensteine.“
„An diese Ruhelosen musstest du denken, als du Dolores tanzen sahest?“ sagte der alte Herr langsam und kopfschüttelnd.
Der andere blickte fragend. „Heisst die junge Dame nicht Therese und wird im Hause Resi genannt?“
„Ja,“ der alte Herr nickte, „aber ich nenne sie Dolores, den Namen gab ich ihr, er scheint mir so passend für sie. Ihre stolze, dunkle Schönheit, von einem Hauch leiser Wehmut umzittert, darf nicht Resi heissen.“
„Hast nicht so unrecht, Vater,“ stimmte der Jüngere bei, und lächelnd schloss er: „Nur die Tanzwut passt schlecht zu Dolores.“
Der Aeltere sagte nichts mehr, aber er musste immerfort denken, dass ihm Dolores, wie er sie auch bei sich nannte, doch mehr als einmal versichert hatte, sie habe gar keine besondere Vorliebe für den Tanz.
Der Professor sagte: „Die jüngere Faber ist ein liebliches Geschöpf und voll ernsten Strebens.“ Er erzählte von ihrem Wunsch, Aerztin zu werden, Kinderärztin.
Der alte Herr schüttelte den Kopf. „Der Irrwisch, die Prinzess Putzmücke, Aerztin? Ja, weisst du denn, mein Sohn, mit dem, was du mir heute erzählst, wirfst du meine bisherige Einschätzung vollständig über den Haufen. Da müsste ich ja jahrelang gar keine Augen im Kopf gehabt haben.“ Er machte eine wegwerfende Bewegung. „Der Laubfrosch Aerztin? Es ist einfach lachhaft. Du hast dir von dem grünen Ding einen schönen Bären aufbinden lassen.“
Martin Ernstmann spürte Aerger in sich aufsteigen. Weshalb sprach der Vater so obenhin, so spöttisch von dem herzigsten Mädelchen, das die Erde trug, an das er immer und immer seit gestern abend denken musste. Wenn er nicht schon so ein alter Krauter wäre, weiss der Himmel, die blonde Erna Faber hätte ihm sehr, sehr gefährlich werden können, darüber war er sich völlig klar.
Heimliches Sehnen fasste ihn an.
Er wollte bald abreisen, aber vorher musste er das herzige, liebenswürdige Mädchen noch einmal sehen und sprechen. Morgen würde er einen formellen Dankbesuch für die Einladung machen und sich dabei auch zugleich verabschieden.
Es war ein schöner, klarer Wintervormittag, sonnig und angenehm; da ging Professor Ernstmann durch die stillen Strassen der kleinen Heimatstadt. In der vergangenen Nacht hatte es zum erstenmal geschneit, und hie und da lagen noch weisse Schneeinselchen, darin sich Sonnenstrahlen zu fröhlichem Glitzerspiel verfingen. Doktor Ernstmann besass ein Häuschen oben am Kirchplatz, und der Professor dachte an seine Kinderzeit. Im Winter, wenn es tüchtig geschneit hatte, war er mit den älteren Brüdern auf einem kleinen Schlitten den Kirchberg hinunter gefahren. Hei, war das immer eine Lust gewesen, der Inbegriff aller Lust und allen Vergnügens. Keine spätere Rodelfahrt mit seiner hübschen, lebenslustigen Frau in St. Moritz war ihm so schön erschienen.
Er ging über die Promenade und dachte plötzlich wieder an Erna Faber. Seine Frau war auch blond gewesen, aber nicht von so schimmerndem Goldblond wie Erna, und er dachte an sein stilles, grosses Heim in Frankfurt am Main, darin noch alles so stand wie zu Lebzeiten seiner Frau.
Wie schön das sein musste, wenn in den Räumen wieder ein junges Weib schalten und walten würde! Sonderbar, er, der seit Jahren nicht mehr daran gedacht hatte, verbiss sich mit einem Male an ein blutjunges Ding, dessen Vater er hätte sein können. Und neben der zarten Blonden tauchte eine schlanke Brünette auf, und manchmal schien es ihm, auch sie gefiel ihm allzusehr. Er lächelte ärgerlich. War er denn eine Don-Juan-Natur, dass seine Gedanken plötzlich auf solchen Seitenwegen spazierten?
Er stand dann vor dem kleinen Faberschen Hause. Das öffnende Dienstmädchen liess ihn gleich ein. Die Damen würden sofort erscheinen.
Er befand sich in einem nett und geschmackvoll eingerichteten Zimmer und vertrieb sich die Wartezeit damit, ein auf dem Tisch liegendes Photoalbum zu durchblättern. Die beiden Töchter des Hauses waren mehrfach vertreten. Die ältere sah rassig und fremdartig aus, das fiel ihm wieder besonders auf, die Jüngere licht und hold, fast unirdisch sanft.
Die Tür öffnete sich. Resi trat ein. „Verzeihung, Herr Professor, Mutter und Schwester folgen mir gleich, sie haben gerade eine Beratung mit der Schneiderin, die nun natürlich sofort abgekürzt wird.“
Resi war etwas gedrückt, die Unterhaltung, die sie am Tanzabend mit der Schwester gehabt, machte sie dem Manne gegenüber unfrei.
Er hatte auf ihre Einladung wieder Platz genommen und fragte nun: „Wie ist Ihnen das viele Tanzen letzthin bekommen, mein gnädiges Fräulein?“
War wirklich ein kleiner spöttischer Unterton in seiner Frage gewesen, oder bildete sie sich das nur ein?
Sie antwortete ziemlich kurz: „Wundervoll ist mir der Tanz bekommen.“
Sie hat etwas Hochmütiges, stellte Professor Ernstmann fest, und empfand das Alleinsein mit dem feierlich ernsten Mädchen peinlich und unbequem.
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