Mutterstolz leuchtete in ihren Augen.
Therese schwieg und dachte, dass Mutterliebe doch fast immer blind ist, sonst hätte es der Mutter nicht verborgen bleiben können, dass Erna tausend kleine Heimlichkeiten trieb und immer neue Ausreden ersann, um von Haus wegzuwitschen. Verstohlene Rendezvous, postlagernde Briefchen gehörten zu Ernas Lebensbedarf. Einmal fand sie so einen Brief bei Erna und sagte ernst: „Auf solche Korrespondenz darfst du dich nicht einlassen, das schadet deiner Ehre!“
Da schalt die Jüngere die Aeltere: „Aufpasserin, Spionin, Scheinheilige,“ und fing an sie zu quälen und bösartig zu necken, denn in Erna war etwas Böses, das manchmal durchdrang und sich Luft machen musste.
Therese aber blieb gleich freundlich und lieb zu der Schwester, mit der sie keine Blutsbande verknüpften, und die sie dennoch liebte und bewunderte, weil sie so feingliedrig und sonnig zart war, während ihr früher blondes Haar längst dunkelbraun geworden war und ihre tiefblauen Augen jetzt fast schwärzlich schienen. Auch besass sie nicht Ernas lichte Haut, ihr schmales, etwas scharfes Gesicht war wie aus nachgedunkeltem Elfenbein.
Frau Doris lachte manchmal, wenn sie nicht immer und immer Resi um sich gehabt hätte, würde sie glauben, das Kind sei ihr vertauscht worden. Wie eine Südländerin sah Resi aus, und ihr Name passte schlecht zu ihr.
„Dolores müsstest du heissen, Kind,“ sagte Dr. Ernstmann, der nun seit langem Witwer war und schon Mitte der Achtzig stand. Seine Söhne waren ausserhalb verheiratet, der jüngste verwitwet wie er. Er lebte ein stilles Einsiedlerleben und kurierte zuweilen noch ein bisschen an den Menschen herum, wenn er gerade gewünscht wurde. Er nannte Resi, wenn er mit ihr allein war, ‚Dolores‘, und sie hörte sich gern so nennen. Es klang sanft und dennoch voll. Dolores, die Schmerzenreiche. Sie musste lächeln. Schmerzen, wirkliche, grosse Schmerzen, nein, die kannte sie nicht, die waren ihr bisher fremd geblieben. Dass sie ihre wahren Eltern nie gekannt, war wohl der einzige Schmerz in ihrem Leben.
Als Kind hatte sie darunter gelitten, heute war sie darüber hinweg, nur zuweilen in stillen Nächten, wenn sie plötzlich erwachte und die Stille wie ein heimliches Raunen und Atmen war, dann sann sie: wie wohl die Mutter gewesen, und ein leises Sehnen zog über ihr Herz, dass es erbebte, und ihr war, als höre sie fernes, verlorenes Weinen.
Nun hatten Resi und Erna tanzen gelernt, und Frau Doris wollte eine kleine, ganz kleine Gesellschaft geben, später sollte getanzt werden.
Ihr Mann widersprach zum erstenmal ganz heftig: „Wir sind keine reichen Leute, in dieser teuren Zeit gibt man keine Gesellschaften.“
„Sollen deine Töchter Vestalinnen werden?“ sagte Frau Doris, die sich noch jung gehalten und mit ihrem Lächeln ihren Mann noch heute wie einst gefügig machte.
„Resi liegt an dem albernen Herumgehüpfe gar nicht,“ wehrte er ab.
Sie zuckte die Achseln. „Sie muss doch heiraten, denn immer kann sie nicht hier herumhocken oder gar drüben beim alten Ernstmann, mit dem sie allerlei ärztlichen Humbug treibt. Erna beschwerte sich, neulich habe sie einen Armknochen zum Präparieren mit ins Haus gebracht, sie hätte sich furchtbar geekelt.“
„Wollen sie doch studieren lassen,“ meinte er nachdenklich.
Sie wehrte heftig ab. „Ausgeschlossen, ich will keine Emanzipierte, und dann kostet das Studium auch viel Geld, und unsere rechte Tochter darf in keiner Weise benachteiligt werden.“ Sie seufzte. „Hätte ich geahnt, dass ich noch ein eigenes Kind haben würde, hätte ich natürlich niemals die Dummheit gemacht —“
„Halt ein!“ unterbrach er schroff, „du gehst zu weit, dergleichen darfst du niemals sagen, auch nicht vor mir, denn ich warnte dich damals. Jetzt ist Resi unser Kind, genau wie Erna, wir müssen unser Gut und unsere Liebe zwischen beide gerecht und ehrlich verteilen.“
Frau Doris lächelte überlegen. „Die Stimme des Blutes fragte nicht nach Gerechtigkeit. Dass ich Erna tausendmal mehr liebe als Resi, wer will mir einen Vorwurf daraus machen?“
Resi stand plötzlich wie dem Boden entstiegen zwischen den Vorhängen, die zwei Zimmer trennten. Ihr Antlitz war fahl, aber die tiefblauen Augen dunkler denn je, als sie sagte: „Frau Direktor Messner ist eben gekommen, Mutter.“
Frau Doris’ rosige Wangen waren auch erblasst. Sie fragte unsicher: „Hast du gehört, was wir hier eben gesprochen haben?“
Resi war zu stolz zum Lügen. So bekannte sie ehrlich: „Ja, ich hörte zufällig den letzten Satz von dir, musste ihn hören. Aber sei ruhig, Mutter, ich wäre die letzte, die dir einen Vorwurf machen würde, weil du Erna tausendmal mehr liebst als mich. Ich bin zufrieden und dankbar für das, was du mir gibst.“ Ihre dichten Wimpern senkten sich, und still huschte sie hinaus.
Frau Doris biss sich zornig auf die Lippen. „Abscheulich ist es, dass sie gerade hören musste, was am wenigsten für sie bestimmt war. Im übrigen klang ihre Antwort seltsam — ich werde manchmal nicht klug aus dem Mädel.“
„Sie empfindet, dass sie gegen Erna zurückgesetzt wird,“ meinte der Mann, „sie tut mir zuweilen leid.“
„Zurückgesetzt?“ fuhr Frau Doris auf. „Aber ich bitte dich, Gustav, davon kann doch gar keine Rede sein, sie erhält alles, was Erna erhält, alles!“
Er lächelte nachgiebig. Wozu Streit? Aendern würde er doch nichts. Also weshalb jetzt antworten, dass Resi zwar genau so viel an Kleidung und anderen Dingen erhielt wie Erna, dass aber alles, was sie bekam, von minderer Güte war. Und Resi besass ausgesprochenen Schönheitssinn, der mochte oft darunter leiden
Frau Doris ging, und ihr Mann blickte ihr sinnend nach. Wie ganz anders hatte sich seine Frau entwickelt, als er früher geglaubt, wie so ganz, ganz anders. Vor dem Tode Klein-Lisis lustig und sanft, gefügig und einfach, nach ihrem Tode abgestumpft, für nichts empfindlich; froh und lieb und einfach wieder, als Resi ins Haus kam, und nach Ernas Geburt eine selbstbewusste, eitle Frau, die es mit der Gerechtigkeit nicht so genau nahm. Sonst hätte sie sich immer und immer sagen müssen, sie hatte Resi ihren Verhältnissen entrissen, ihr Tochterrechte gegeben, sie durfte ihr die eigene Tochter nicht vorziehen.
Gustav Faber brannte sich eine Zigarre an. Gut wäre es, wenn sich für Resi bald ein Mann fand, er fürchtete allerlei Reibereien innerhalb der häuslichen vier Wände, und seine Ruhe und Bequemlichkeit ging ihm über alles. —
Frau Doris begann mit den Vorbereitungen für den Gesellschaftsabend. Neue Kleider sollten die Mädchen haben. Erna sass im behaglichen Wohnzimmer neben der Mutter, und beider Augen ruhten auf einem Modeblatt. Ernas Gesicht lächelte verträumt, während ihr rechter Zeigefinger eine Modefigur nachzeichnete.
„Sieh, Mutti, wie reizend dieses Kleid ist, sieh nur den Faltenwurf und die entzückende Stickerei. Ich denke mir, es müsste für mich in hellgrüner Seide gearbeitet und die kleinen Ranken auf Schultern und Brust in zartestem Rosa oder Weiss hineingestickt werden. Dazu eine matte, ganz matte Rose im Haar.“ Sie blickte mit leuchtenden Augen die Aeltere an. „Mutter, sage ja, ich bitte dich darum. Nicht wahr, das Kleid lässt du mir arbeiten?“
Frau Doris nickte. „Natürlich, Liebling, natürlich. Aber ich weiss nicht, was wir mit Resi machen? Ob ihr mattgrün steht und dann — für euch beide kommen solche Kleider doch vielleicht etwas zu teuer.“
Ernas hellblaue Augen hatten plötzlich einen kalten Glitzerschein. „Ach, Resi,“ sagte sie in leicht wegwerfendem Tone, „wozu muss die denn dasselbe tragen wie ich? Ihr Weisses vom Tanzstundenball ist doch noch tadellos, während meines den hässlichen Riss hat. Sie soll es anziehen, das ist doch ganz einfach.“
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