„Warum denn nicht?“ fragte Regine verwundert. „Ich werde doch mit vier Jungen fertig werden!“
„Das glaube ich auch“, sagte Wilm trocken. Regine sah Axel an.
„Wenn du meinst?“
„Ich denke, wir versuchen es.“
„Aber die Reise dahin ist sehr teuer.“
„Ja, das ist sie. Aber das ist nicht ausschlaggebend. Wir haben ja noch etwas Geld von den Eltern, wenn wir auch immer so tun, als wär’ das nicht da. Es ist der Notgroschen – aber hier könnte man vielleicht einmal etwas davon nehmen.“
„Oh, ich weiß was. Ich kenne einen Fernfahrer, der immer einmal diese Strecke fährt“, griff jetzt Wilm ein. „Grüningen, das liegt doch nicht weit hinter Kassel? Na, wunderbar. Wir müssen ihn nur mal fragen. Da fährst du ganz umsonst mit.“
„Mit einem Laster?“ Regines Augen blickten erwartungsvoll. „Das wäre fein! Viel feiner als mit der Eisenbahn! Wann fährt er denn?“
„Ich muß mich erkundigen. Also du würdest dort hinwollen?“
„Erst müssen wir aber doch anfragen, ob du kommen kannst“, gab Axel zu bedenken. „Du kannst doch nicht so auf gut Glück loskutschieren.“
„Du, Axel, ich würde lieber nicht anfragen“, sagte Wilm jetzt langsam. „Sieh einmal, vier Jungen haben die Leute schon, das ist heutzutage schon zum Haareraufen. Und nun noch ein Mädel dazu?“
„Ich schicke aber doch einen Zuschuß. Ich will es ja nicht umsonst“, ereiferte sich nun Axel. „Alles, was ich irgendwie entbehren kann, schicke ich ihnen als Unterhaltshilfe.“
„Trotzdem! Ich finde es viel besser, Regine fährt einfach los. Wenn sie hinkommt, müssen eure Verwandten sich damit abfinden. Außerdem, ich nähme deine kleine Schwester auch und wenn ich zwölf Jungen hätte.“
„Schmeichler“, sagte Axel, aber es tat ihm doch gut. Man sah seinem Gesicht deutlich an, daß er sich Gedanken machte. „Nein, aber ganz unangemeldet kann man es nicht gut tun. Dem Vormund sage ich, Westphals rissen sich um dich. Damit er sich nicht etwa dazwischenschiebt. Das bekomme ich schon in Ordnung, der ist froh, wenn ich ihm einen Vorschlag mache.“
„Dann gib ihr doch einen Brief mit!“ rief Wilm.
„So wie im Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren?“ sagte Regine. „Und die Räuber? Wenn ich nun unterwegs unter die Räuber gerate? Und sie vertauschen den Brief und schreiben einen andern?“
„Na, ich werde wohl etwas anderes hineinschreiben als dieser menschenfreundliche König“, sagte Axel. „Nein, wir machen es noch anders. Ehe du hier wegfährst, schreibe ich an Westphals. Dann kommt der Brief an, kurz bevor du dort eintriffst. Sie sind dann vorbereitet und können doch nicht mehr absagen. Ist das nicht ausnehmend schlau?“
Nach langem Hin und Her beschlossen sie, es so zu machen. Axel war dabei nicht recht behaglich zumute, aber er wußte auch nicht, wie er es anders machen sollte. Wilm versprach, mit dem Fernfahrer zu reden, den er gut kannte. Regine wäre bei ihm bestimmt in guter Hut, versicherte er.
„Du bist also nicht traurig?“ fragte Axel schließlich. Er hatte nicht fragen wollen, aber es ließ ihm keine Ruhe. Regine sah ihn an.
„Nein, gar nicht!“ sagte sie, und gleich darauf fiel sie ihm um den Hals, drückte ihr Gesicht fest an seine Schulter und schluchzte. Wilm stand auf und suchte sehr umständlich nach Streichhölzern. Er fand keine, obwohl zwei Schachteln auf dem Tisch lagen. Zuletzt ging er, Unverständliches murmelnd, hinaus. Drinnen im Zimmer war es still.
„Ich bringe dir ganz was Schönes mit aus Rom“, sagte Axel nach einer langen Weile. Sie hatten sich beide die Nasen geputzt und sahen sich an, ein wenig schüchtern. „Was wünschst du dir denn? Wünsch dir was, Regele!“
„Eine Apfelsine“, schluchzte Regine, „aber du mußt sie selbst gepflückt haben. Kann man das dort?“
„Natürlich. Nein, was anderes. Etwas, was bleibt.“ Axel hatte große dunkle Augen, während er überlegte. „Am liebsten...“
„Am liebsten?“ fragte Regine gespannt.
„Am liebsten nähme ich dich mit“, sagte er leise, und es klang so sehnsüchtig, daß er selbst erschrak. Bisher waren sie beide so tapfer gewesen, aber wenn er sich vorstellte, daß er mit ihr das alles ansehen und erleben könnte, dann wurde ihm ganz entsetzlich weich ums Herz.
„Natürlich, das wäre am schönsten. Aber das geht ja doch nicht.“ Regine sprach ganz vernünftig und nüchtern. „Wir sprachen doch vom Mitbringen, nicht vom Mitnehmen. Die Thea aus meiner Klasse, weißt du – ihr Vater war voriges Jahr auch in Rom und auf Capri. Wirst du auch nach Capri kommen, oder ist das zu weit?“
„Natürlich werde ich“, sagte Axel schnell. „Capri, blaues Meer, noch blauerer Himmel...“
„Von dort hat ihr Vater was Süßes mitgebracht, aber sicher ist es zu teuer. Weißt du...“ Regine verstummte.
„Was ist es denn?“ fragte Axel vorsichtig.
„Ja, aber bloß, wenn du es wirklich bezahlen kannst! Ein Eselwagen, so groß...“ Regine zeigte mit den Fingern einen Abstand von vielleicht acht Zentimetern. „Zwei Esel vor einem Karren, aus so etwas Ähnlichem wie Porzellan, aber schöner.“
„Keramik?“ fragte Axel.
„Weiß nicht. So ungefähr wie Ton. Also der ist goldig! Solche Karren gibt es nur dort, auch in Wirklichkeit. Aber denk doch mal, wenn ich so einen hätte, hier auf dem Tischchen – als Aschenbecher für dich!'“
„Regele“, sagte Axel, und er sagte es so laut, daß der rücksichtsvolle Wilm draußen zusammenfuhr und dachte: „Jetzt zanken sie sich doch noch.“ – „Regele! Und wenn ich nur wegen dieses Eselkarrens nach Capri führe, den bekommst du!“
Der Herr mit dem roten Wagen
„Danke. Nein wirklich, ich sitze wunderbar. Und ich fahre furchtbar gerne Lastwagen“, sagte Regine. Sie mußte es sehr laut sagen, denn der zweite Gang, den der Fahrer gerade eingeschaltet hatte, machte einen fürchterlichen Krach, so einen Krach, daß man eigentlich regelrecht schreien mußte, um sich verständlich machen zu können.
„Ja? Man sieht ja auch mehr von der Landschaft als von einem so lächerlichen niedrigen Personenwagen aus“, sagte der Fahrer stolz und bescheiden. Er war ein älterer Mann, braungebrannt und ein wenig bartstoppelig, aber mit so guten braunen Augen, daß man ihn gleich gern haben mußte. „Sieh mal, da unten! Wir sitzen hier wie der Kapitän auf einem Ozeandampfer, hoch oben, und das da sind die kleinen Motorboote.“ Er wies auf einen kleinen Personenwagen, der sie eben überholte und an ihnen vorbeiwitschte. Regine nickte.
„Wirklich!“ Ja, wie auf einem Dampfer kam sie sich vor, der ins weite Meer hinaussteuert. Beinahe meinte sie, ihre Reise sei eigentlich viel schöner und großartiger als die Axels. Natürlich, der freute sich schrecklich, aber er wußte doch wenigstens, wohin er kam. Nach Rom, von dem er schon so viele Bilder gesehen und ihr gezeigt hatte. Sie aber fuhr in ein ganz unbekanntes Land, an einen Ort, den weder sie noch Axel gesehen hatte. Vielleicht gab es Grüningen am Ende gar nicht? Vielleicht war es nur ein Druckfehler auf der Karte?
„Waren Sie schon einmal dort? Ich meine, in Grüningen“, sagte sie aus diesem Gedankengang heraus. Man konnte sich jetzt in normaler Lautstärke unterhalten.
„Freilich, ich bin oft daran vorbeigefahren. Freust du dich denn darauf, dorthin zu kommen?“ Wilm schien ihm einiges erzählt zu haben.
„Ja, sicher. Nur – ob die Leute dort sich freuen, wenn ich komme?“
„Sie werden schon. Es sind doch Verwandte von dir?“
„Ja, die Frau ist Mutters Schwester. Aber sie hat schon selbst vier Kinder.“
„Ha no, ich hab’ auch fünf“, sagte der Fahrer tröstend. Regine lachte ihn dankbar an.
„Buben oder Mädel?“
„Vier Buben und ein Mädel.“
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