„Was? Wirklich?“
„Ja. Wir haben uns immer ein Mädel gewünscht, und schließlich kam es auch noch. Wenn man so etwas überhaupt sagen darf – das Mädel ist mir fast das liebste von allen“, sagte er. Etwas Schöneres hätte Regine nicht hören können.
Ach nein, Regines Herz war nicht schwer. Der Abschied von Axel hatte natürlich weh getan, aber man konnte ja gar nicht trüb und traurig sein, wenn man bei solchem Wetter, in einer so bezaubernden Gegend und noch dazu in dieser Jahreszeit fuhr! Es war wohl der schönste Frühlingsmorgen, den der liebe Gott sich in seiner besten Laune ausgedacht hatte. In der Ferne lag ein zarter Dunst über den Wäldern; hier an der Landstraße rechts und links blühten die Bäume weiß und rosa, und die Wiesen lagen in schimmerndem Grün in der Sonne. Der Schatten des Lasters, der eilig neben ihnen herlief, war auf dem betauten Gras umstrahlt von einem hellgoldenen Kranz. Regine beobachtete dies schon die ganze Zeit und wies jetzt hinaus, zeigte es ihrem Begleiter.
„Sehen Sie mal, Herr Burger, wir sind golden eingerahmt.“
Er lachte.
„Glaubst du, daß ich das noch nie gesehen hätte? Freilich, wir müssen nach vorn sehen, wir Fahrer. Oder höchstens in den Rückspiegel, wenn uns jemand überholen will. Aber neulich hatte ich mein kleines Mädel mitgenommen. Es ist noch etwas jünger als du. Die hat mir das auch gezeigt. Ihr habt eben doch offnere Augen als unsereiner.“
„Vielleicht für so etwas. Aber sonst nicht. Sehen Sie, daß der an uns vorbei wollte, hatte ich noch nicht gemerkt.“
„Der darf auch nicht“, sagte Burger und schmunzelte schadenfroh. Ein sehr eleganter Wagen, niedrig, dunkelrot, besetzt mit einem einzelnen Herrn, wollte sie schon seit einem Weilchen überholen. Er kam aber nicht dazu. Immer wieder kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen, das er erst vorbeilassen mußte.
Regine, in ihrer hellen Frühlingsstimmung, beugte sich aus dem Fenster, dessen Scheibe sie heruntergekurbelt hatte, schaute rückwärts und winkte ihm lachend zu. Gerade mußte er wieder seine vorwitzige Kühlernase, als er eben im Begriff gewesen war, an ihnen vorbeizuflitzen, zurückziehen und brav hinter ihnen bleiben, bis der Lastzug, der ihnen entgegenkam, vorbeigebrummt war. Regine hatte sich mit ihrer Kleinmädel-Schmalheit auf die linke Seite des Fahrers gesetzt, weil man da mehr sehen konnte. Rechts von ihnen lagen auf dem breiten Ledersitz ihr Rucksack und ihr neuer kleiner Koffer, den Axel ihr noch gekauft hatte.
„Gelt, der ist bös! Na, wenn er erst auf der Autobahn fährt, kann er überholen, soviel er will“, brummte Burger und sah dem Wagen nach, der jetzt endlich vorbeigeschossen war. Ein bitterböser Blick war zu ihnen heraufgefunkelt in der Sekunde, in der sie auf gleicher Höhe fuhren. Der Herr schien gemeint zu haben, Regine lache ihn aus.
„Laß ihn sausen!“
„Kommen wir wirklich auf die Autobahn, und fahren wir lange drauf?“ fragte Regine.
„Bis Kassel. Weil ich heute leer fahre. Ich lade erst in Paderborn. Sonst benutze ich hier die Autobahn nicht. Sie ist mir zu bergig. Wenn man geladen hat, fährt man lieber um die Berge herum, wo es möglich ist. Aber ohne Ladung tu ich es schon.“
„Oh!“ Regine setzte sich erwartungsvoll aufrecht. „Und jetzt sind wir gleich da?“ Sie hatte das blaue Schild gesehen.
„Ja, und sie ist schön. Gerade diese Strecke. Ich habe dir extra gesagt, du sollst dich auf diese Seite hier setzen, da siehst du bei Hersfeld die schöne alte Burg. Ich glaube, sie ist jetzt als Jugendherberge eingerichtet.“
„Sie sind lieb“, sagte Regine aufatmend. „Überhaupt, daß ich mit Ihnen fahren darf!“
„Na, na!“ brummte er. „Ich dachte an mein Mädel. Das hat noch vier Brüder und Vater und Mutter. Und wen hast du noch?“
„Einen Bruder hab’ ich auch noch“, sagte Regine schnell. „Und der ist wirklich gut. Bloß eben – jetzt ist er nicht da!“
„So. Aber nun gib acht!“ sagte Herr Burger.
Wie schön rollte der Wagen jetzt auf der ebenen Glätte nach der holprigen Zubringerstraße! Es war ein Genuß zu fahren. „Weißt du was? Jetzt trinken wir erst einmal richtig Kaffee“, schlug er vor. „Hier gibt es schöne Rasthäuser.“
„Kommt jetzt eins?“ fragte Regine.
„Ja, dort halte ich meistens. Die Leute haben ein zahmes Reh. Willst du es einmal ansehen?“
„Ist deshalb hier das Bild von dem Rehbock?“ fragte Regine interessiert. Sie waren an einem Schild vorbeigefahren, auf dem ein lebensgroßer Rehbock zu sehen war.
„Nein“, sagte Herr Burger und lachte, „das nicht. Aber hier ist ein Wildwechsel. Weißt du, was das ist? Ein Weg, den die Rehe benützen, wenn sie über die Autobahn wechseln. Da müssen die Fahrer besonders achtsam sein, damit sie kein Tier verletzen, sowohl bei Tag als auch in der Nacht.“
„Fahren Sie denn auch in der Nacht?“ staunte Regine.
„Natürlich, oft. So, jetzt sind wir da.“
Herr Burger fuhr den Wagen rechts heran und bremste. Hier war auch eine Tankstelle, und Wagen aller Art standen dort. Regine sprang hinaus, ihr Fahrer folgte. Sie gingen zum Rasthaus hinüber.
Das war ein schöner, neuer Bau, hell, mit schmiedeeisernen Gittern vor den Fenstern, und darin war es besonders gemütlich. Die Wände waren mit hellem Holz getäfelt, die Tische weiß gescheuert, und alles war freundlich und sauber. Herr Burger bestellte für Regine und sich selbst je ein tüchtiges Fernfahrerfrühstück.
„Ich lade dich selbstverständlich ein, du brauchst nichts zu bezahlen“, sagte er beruhigend. Regine sprang hinaus in die Küche, sie wollte so gern das zahme Reh sehen.
Als sie durch die Gaststube ging, stieß sie um ein Haar mit einem Herrn zusammen, der eben durch die hintere Tür hereintrat. Sie wich ihm gerade noch aus und war selbst sehr erschrocken, weil es beinah einen Zusammenstoß gegeben hätte. Aber ihr „Oh, Entschuldigung!“ bekam nur ein undeutliches Brummen zur Antwort. Sie war froh, gleich darauf draußen zu sein. In dem Augenblick, in dem sie den Herrn angesehen hatte, hatte sie ihn erkannt. Es war der Fahrer des dunkelroten Wagens, der sie während der Fahrt einigemal zu überholen versucht hatte.
In der Küche stand eine freundliche, runde Frau am Herd und brühte eben Kaffee auf. Ihr ganzes Gesicht glänzte vor Behagen und Gutmütigkeit. Regine fragte sie zutraulich nach dem Reh.
„Natürlich kannst du es sehen. Es ist draußen im Garten hinter dem Haus. Nein, es tut nichts, du kannst es gern streicheln. Warte, ich gehe mit dir, ich muß sowieso draußen nach dem Rechten sehen.“
Die Frau wollte einen Eimer mit Hühnerfutter aufnehmen, der neben dem Herd stand. Regine bückte sich rasch und kam ihr zuvor.
„Ich kann ihn auch tragen!“
Sie gingen zusammen hinaus in den Garten. Der war mit einem Drahtzaun umgeben. Gleich dahinter begann der Wald.
„Den Zaun haben wir nur der Hühner wegen gesetzt. Unser Rickele reißt nicht aus“, sagte die Frau und lockte das Reh. Es äugte aus seinen sanften braunen Lichtern zu ihnen herüber, hob das lackschwarze Geäse und kam ganz vertraut zu ihnen heran. Regine streichelte es vorsichtig, damit es nicht erschrecke, und sprach zärtlich mit ihm. Nein, was für ein unwahrscheinlich zartes Tier solch ein Reh war. Sie hatte noch nie eins so nahe gesehen.
Sie fütterten dann zusammen die Hühner und freuten sich an dem eifrigen Gepicke der bunten Schar. Schließlich aber meinte die Frau, sie müsse jetzt schnell wieder in die Küche, die Herren warteten ja auf den Kaffee.
„Ich komme mit“, sagte Regine und lief voran, den Eimer in der Hand. Vor der Hintertür des Hauses lagen ein paar Kartoffelschalen verstreut. Regine sprang darüber hinweg, die Frau aber hatte wohl nicht hingesehen. Sie trat darauf und rutschte aus. Bums! Regine drehte sich erschrocken um. Da lag die dicke, freundliche Frau am Boden und stöhnte.
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