1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 „Na aber!“ sagte die Wirtin und schüttelte den Kopf. „So etwas! Nimm dich nur in acht, Kind! So unterwegs, da kann einem allerlei passieren. Was würde deine Mutter denn dazu sagen?“
„Ich habe keine Mutter mehr“, sagte Regine langsam, „auch keinen Vater. Meine Eltern sind auf einer Auslandsreise umgekommen, am selben Tag, bei einem Eisenbahnunglück. Aber ich habe noch einen Bruder“, fügte sie hastig hinzu, als sie die mitleidigen Gesichter der beiden Frauen sah. „Einen Bruder, dem hab’ ich bisher den Haushalt geführt. Er ist wirklich lieb und gut zu mir. Ja, und der hat gesagt...“, sie stockte.
„Was denn?“ fragte Maria, von der Wickelei an dem wehen Bein aufsehend.
„Ich darf mit niemandem Fremden reden“, gestand Regine kleinlaut. Und sie hatte doch geredet, gleich am ersten Morgen, an dem sie allein unterwegs war.
„Ich muß jetzt gehen“, sagte sie und wandte sich der Gaststube zu. Ihr Schritt war zögernd.
„Na?“ fragte Herr Burger, als sie an seinen Tisch trat.
„Müssen wir fort?“
„So allmählich wohl.“
In diesem Augenblick stand der Herr drüben am Fenster auf. Er knöpfte sich den mittleren Knopf seines Rockes zu, reckte sich ein wenig in den Schultern und kam dann herüber, quer durch die Gaststube. Regine sah ihm entgegen. Er machte dem Fahrer gegenüber eine kleine, mehr angedeutete Verbeugung.
„Habernoll. Ich habe gehört, daß meine Nichte Regine mit Ihnen unterwegs ist. Ich kann meine Reise ein wenig ändern und sie mitnehmen, dorthin bringen, wohin sie fahren muß. Nach Grüningen. Bitte geben Sie mir das Gepäck des Kindes! Sie brechen ja wohl auch jetzt auf.“
„Sicher“, sagte Burger und sah auf. „Aber mit dem Kind. Das Kind ist mir anvertraut und fährt mit mir.“
„Aber Mann, ich sage Ihnen ja, daß ich der Onkel bin, der Vetter ihres Vaters. Übrigens können Sie meine Papiere ansehen. Mein Name ist Habernoll, wie der dieses Kindes.“
„Von mir aus können Sie Schuster oder Schneider heißen oder auch Posemuckel. Das ist mir ganz Gottlieb Schulze. Und an Papieren können Sie haben und mir vorzeigen, was Ihnen Spaß macht“, sagte Burger mit Ruhe, „das Kind bringe ich nach Grüningen.“
„Aber Sie hören doch...“
„Fräulein, ich möchte zahlen“, sagte Burger seelenruhig. Gerade war die junge Maria ins Lokal getreten. „Bitte, hier, das Frühstück für das Kind und für mich. So, danke, das ist für Sie. Komm, Regele!“
„Halt! Regine, du bist doch schon ein Mensch mit Kopf und Verstand. Glaubst du wirklich, daß ich ein Schwindler bin? Ich heiße Habernoll, du kannst meinen Ausweis sehen.“
Regine war stehengeblieben, Burger auch. Er stand jetzt halb hinter ihr, wie ein getreuer Wächter. Regine fühlte es, und das gab ihr Mut.
„Vielleicht sind Sie mein Onkel Henry, das kann schon sein“, sagte sie und sah zu dem Herrn auf, mitten hinein in seine Augen, die von einem starken, stählernen Blau waren. Sie erkannte es mehr im Unterbewußtsein, erinnerte sich später aber sehr deutlich daran. Schade, daß diese Augen so finster blickten! Vorhin schon hatte Regine gedacht, er könnte ganz nett aussehen, wenn...
Verschüchtert fuhr sie fort: „Aber Axel, mein Bruder Axel, hat mir verboten, mit jemandem zu sprechen, den ich nicht kenne. Herr Burger soll mich hinfahren, hat Axel gesagt, und da bleibe ich bei Herrn Burger. Und er war so nett zu mir und hat mich behandelt, als wäre ich sein eigenes Kind. Was sollte Herr Burger denn meinem Bruder sagen, wenn er mich nicht selbst ablieferte? Gelt, Sie sind nicht böse.“ Sie trat einen Schritt zurück und stellte sich neben den Fernfahrer.
„Ich glaube, das Kind hat recht“, sagte jetzt die junge Maria sanft, die auch herzugetreten war. „Ich würde es auch so machen. Und vergiß uns nicht ganz, Regele, du, nein? Wirst du mal wieder hier hereinschauen, wenn du vorbeikommst?“–
„So, da hätte ich dich also behalten“, sagte Herr Burger vergnügt, als sie schon wieder eine Weile fuhren. „Der war ja ganz still am Schluß. Wärst du nicht doch ganz gern mit ihm gefahren? Er hatte doch einen so schönen Wagen“, fragte er nach einer Weile. Regine schnaufte verächtlich durch die Nase.
„Wagen? Als ob es danach ginge! Sicher war der Wagen schön. Und vielleicht war der Herr auch wirklich mein Onkel. Aber ich muß doch das tun, was Axel gesagt hat. Er müßte sich ja sonst totängstigen um mich. An sich ist Axel gar nicht ängstlich, wissen Sie, aber wenn er Sie nicht kennengelernt hätte, würde er mich bestimmt nicht so in die Welt hinausgeschickt haben. ,Bei Herrn Burger bist du in guter Hut‘, hat er gesagt, und das glaube ich auch. Und Wilm kennt Sie doch auch. – Aber gewußt, ob er es wirklich ist – ich meine, ob der Herr mein Onkel ist –, das hätte ich doch gern. Er fuchtelte mit seinen Papieren so herum, lesen konnte ich nichts. Vielleicht war das seine Absicht und ein Trick?“
Herr Burger lachte. Und dann fuhren sie weiter durch das frühlingsgrüne Land, und es war so schön, daß man alles andere vergessen mußte, was einem das Herz hätte beschweren können. Den Schmerz um Axel, die kleine Angst, wie man in Grüningen empfangen werden würde, und alle vornehmen Autofahrer der Welt, ob sie nun Onkels waren oder nicht.
„Jetzt sind wir bald da“, sagte Herr Burger und sah Regine an. Sie erwiderte seinen Blick eine Sekunde lang, sah dann wieder geradeaus. „Na, na“, brummte er gleich darauf tröstlich.
„Siehst du, das ist eure Stadt. Grüningen liegt bei Warburg“, erzählte er und ließ seinen Wagen langsam bergauf schnaufen. „Hierher schicken sie dich vielleicht in die Schule.“
„So nahe sind wir schon?“
„Na, es werden noch fünfzehn Kilometer sein. Nein, so weit wirst du wohl nicht fahren müssen. Vielleicht gibt’s im nächsten Ort, in Niederhausen, eine Mittelschule für dich. Das ist nicht so weit, und dahin fährt vielleicht ein Omnibus. Bist du zu Hause in die höhere Schule gegangen?“
„Nein, auch in die Mittelschule. Axel sagt, ich würde doch später einmal etwas Praktisches werden, weil ich so gern wirtschafte und koche und backe. Ja, ich kann Kuchen backen, wirklich! Und in der Schule, in die ich dort ging, gab es in den oberen Klassen auch schon Kochstunden. Ob das hier in Westfalen auch so ist?“
„Meinst du, die Westfalen kochen nicht? Und wie gut! Hast du noch nie was von westfälischem Schinken gehört?“
Doch, das hatte Regine wohl. Jetzt aber interessierte sie das Städtchen, und sie sah eifrig um sich. Sie fuhren an einem hellen, großen Gebäude vorbei, dem man schon von weitem ansah, daß es eine Schule war. Aber eine Jungenschule, wie man sofort merkte. Der Unterricht mußte gerade zu Ende sein, denn es strömte aus dem Tor, Jungen aller Größen, mit Schulranzen die kleineren, mit Mappen unterm Arm die größeren. Aus einem Seitentor wurden Räder herausgeschoben.
„Vielleicht sind deine neuen Brüder dabei“, lächelte Herr Burger. „Such sie mal heraus! Wie wäre es mit dem?“ Er zeigte auf einen sommersprossigen, rothaarigen, etwa vierzehn Jahre alten Bengel, der soeben auf sein Rad sprang, indem er, an der Lenkstange anfassend, es neben sich herschob, zu einer Flanke ansetzte und dann mit gegrätschten Beinen auf dem Sattel landete. Es sah großartig aus, und Regine lachte.
„Der würde mir schon gefallen!“
Der Junge, der gerade in Höhe des Lastzuges fuhr, hatte wohl gemerkt, daß man ihn beobachtete. Er sah zu Regine empor, lachte sie an und streckte ihr dann die Zunge heraus, so lang er konnte. Herr Burger, der es auch sah, lachte laut.
„Na? Gefällt er dir immer noch?“
„Warum nicht? Frech ist er, aber radeln kann er wunderbar. So aufsteigen wie er, das möchte ich auch lernen.“
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