Das Thema gefiel den Reisenden. Zumal bei der Fahrt durch die Stadt da und dort noch Straßenfronten mit den niedrigen Hofhäusern zu sehen waren. Es gab zwar nur schmale Durchgänge, in die man nicht weit hineinschauen konnte. Doch wie bestellt ein Mann, der an eine Hauswand pinkelte. Da spielende Kinder, dort Frauen beim Gemüseputzen.
"In den letzten Jahren hat man mit dem planmäßigen Abriß dieser Quartiere begonnen. Auf den freiwerdenden Flächen werden Hochhäuser gebaut. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts sollen alle Hofhäusersiedlungen aus Beijing verschwunden sein. Die Leute freuen sich, daß sie erstmals eine richtige kleine Wohnung für sich haben, mit eigenem Wasseranschluß und eigener Toilette."
Da wird eine Gesellschaft gewaltsam umgekrempelt, überlegte Happy, und dazu sagt der Mann: Die Leute freuen sich. Da werden die, die sich damit abfinden mußten, auf engstem Raum zusammmengepfercht zu sein, keinerlei Distanz mehr zu halten, keinen Intimbereich mehr zu haben, die gelernt hatten, aus Not friedlich zusammenzuleben, einfach auseinandergerissen und in irgendwo abseits stehende Hochhäuser verladen, übereinander gestapelt, Familie für Familie wie in eine Schublade geschoben. Tür zu und nichts mehr zu tun mit den anderen rundum. Und nicht nur denen aus dem sechsten Stock muß schwindelig werden, wenn sie aus dem Fenster schauen.
Herr Li sprach von der unausweichlichen Notwendigkeit dieser gigantischen Sanierungsaktion. Und er sagte kein Wort dazu, daß die Sanierung erst nötig geworden ist durch die vorausgegangene Verstaatlichung, die den Bau weiterer Hofhäuser gestoppt hatte, und durch die rücksichtslose Überbelegung mittels Zwangseinweisung von immer mehr Familien in die vorhandenen Hofhäuser. Schon war der einheimische Führer nur noch mit den neuen Hochhäusern beschäftigt. Daß es anfangs eine reine Verteilung der Wohnungen gegeben habe, seit einem Jahr aber nur noch den Verkauf. "Standard ist die Zwei-Zimmer-Wohnung. Nur selten werden größere gebaut. Sie hat durchweg etwa 45-60 Quadratmeter. Und sie kostet 20-30 tausend Yuan, wenn man sie von der Firma bezieht, bei der man arbeitet. Man braucht also einen Berechtigungsschein. Dafür gibt es aber auch prozentuale Ermäßigungen je nach der Zeit der Firmenzugehörigkeit."
Daneben gebe es auch schon einen freien Wohnungsmarkt, erklärte der Führer. Da koste der Quadratmeter etwa 1.900 US-Dollar. Gerade die Chinesen aus Amerika und Europa und Australien, wie auch die aus Hongkong und aus Taiwan kauften sich neuerdings gern hier ein, um eines Tages einen Alterssitz in der Heimat zu haben.
Am Abend trafen sich etliche der deutschen Touristen in der sogenannten Hotelbar, einer hohen Halle mit ein paar Sitzen um viel Leere herum. Mit einem weißen Flügel als Zentrum, auf beifallheischendem Podest pathetisch aufgeklappt, als wollte er davonfliegen. Aber mit einem Schwarzbefrakten vor ihm, der ihn beidhändig festhielt. Nur ein Vögelchen, das aus Versehen hereingekommen war, flatterte aufgeregt über den Köpfen der wenigen Gäste. Hoch oben, wo die Zigarettenrauchkringel nicht mehr hinkamen, wo ihm nur noch die höchsten Töne der drei chinesischen Sänger in die Quere kamen bei der verzweifelten Suche nach einem Schlupfloch. Nur raus, raus!
Dabei war das ein veritables Opernkonzert, was die abwechselnd auftretenden Sänger boten. Alle drei mit wunderbar vollen Stimmen: Ein schwerer Bariton, ein beinahe schon tenoröser Bariton und ein massiver Baß.
Schade, daß der Beifall so dünn ist, dachte Happy. Sie hätten mehr verdient. Doch mußten die Sänger sich die Aufmerksamkeit des spärlichen Publikums im üblichen Geplapper immer wieder neu erkämpfen. Als dann die ersten Klagen kamen über den heftigen Wind, den die Klimatisierung mache, zog er sich schnell auf sein Zimmer zurück. - Zunächst auf seins. Sollen sie sich doch bedeckt halten. Sollen sie doch ihre Hütchen und Mützchen aufsetzen, wenn sie in der Bar sitzen, diesen blödpraktischen Putz, den sie sich nur ferieninkognito erlauben, immerhin das schönste an diesen Köpfen. Ihr ahnungslosen Leutchen, ihr werdet euch noch wundern. Das bißchen Luftzug ist erst der Anfang. Über den Häuptern der Menschen hier, die sich so amerikanisch international wie unmöglich geben, toben immer noch die alten Götter ihre Kämpfe aus, machen die Dämonen einen Wind, daß einem die Haare zu Berge stehen.
Wie ein Dämon fühlte er sich, als er zu Penni hinüberschlich. Die schon im Bett gelegen hatte. Nur schnell zur Türe gehuscht zum Öffnen und wieder zurück unter die Decke.
"Mein Odysseus."
"Meine Penni."
Happy ruck-zuck aus den Kleidern und als ein böser Dämon ihr die Zudecke weggerissen, sich breitbeinig über ihr aufgebaut. Sie mit seinem rotglotzenden Protz anstarrend. Sie anraunend: "Kennst du das größte der sieben Weltwunder?"
Und sie griff gleich zu: "Na klar, den Leuchtturm von Pharos." Und zog den Protz zu sich herab: "Komm, so komm doch schon, du Weltwunder! Du sollst nur für mich leuchten. Im dunklen, dunklen Wald." Und nahm ihn auf in ihr Gewölle. Das er erst am Abend zuvor als den deutschen Wald bejubelt hatte, dieses unheimlich-düstere Phänomen, von den Deutschen mit Inbrunst besungen, atavistisch geliebt, als einzige Heimat ersehnt und als ewige Überraschung gefürchtet, mutterweich, klafterweise Wärme, märchenhafte Fremde ... Was ihm dazu alles an Unsinn eingefallen war. Jetzt nahm ihm Penni die Luft und damit jedes Wort, wie sie ihn umklammerte. So konnten sie beide nicht feststellen, ob er ihn wirklich erhellte, der Weltwunderleuchtturm den dunkeldeutschen Wald. Aber dieses Leuchten in ihren Augen, das verbuchte Happy machoselbstverständlich für sich.
Als er wieder sprechen konnte, gestand er ihr, es leid zu sein. Penni erschrocken: "Was bist du leid?" Er habe längst jedes Interesse an fremden Ländern verloren, erklärte er schnell. Von einer Begeisterung fürs Reisen ganz zu schweigen.
"Die Namen all der Länder und Städte, die für mich Zauberklang hatten, seit meiner Kindheit mich faszinierten, bei dieser Herumreiserei werden sie zu schlichten Bezeichnungen auf dem Ablaufplan. Ich bin ein Herumirrender, von fremder Hand gesteuert. Wie von den Göttern verflucht. Allem Schönen, das die Welt zu bieten hat, reiße ich mit meinen Kurzbesuchen die Dekoration herunter, doch ehe ich noch dahinterschauen kann, ehe ich was vom fremden Leben mitkriege, bin ich schon wieder weg, schon wieder weiter. Bei der nächsten Destruktionsarbeit. Ein Städte- und Länderzerstörer."
„Aber …“, versuchte Penni ihn zu stoppen. Vergebens.
„Ja, aber, das ist richtig. Aber, muß ich sagen, vielleicht ist ja darin der Sinn des Reisens zu sehen: Daß man Erinnerungen sammelt, daß man wie eine läufige Festplatte hinter allem Neuen her ist, daß man alles abspeichert, abspeichert, damit man irgendwann, in einer leer-lahmen Stunde, etwas hat, das man sich auf den inneren Bildschirm holen kann. Und sei es bloß als Ablenkung. Vielleicht als alter Opa im Schaukelstuhl, beim Blick auf die Geranien auf dem Fenstersims, die wieder dringend Wasser brauchten. Aber man ist zu lahm zum Aufstehen, kommt nicht mehr hoch mit dem Arsch. Dann kann ich den welkenden Blumen von längst verwelkten Reisenden erzählen."
"Ach, Odysseus, so ein Gejammere, das wundert mich. Du warst doch immer so begeistert von der Reiseleiterei."
"Ja, aber allmählich erkennt man, in jedem von uns ist ein Troja zerstört worden. Wir alle kommen aus rauchenden Trümmern. Doch wir holen uns mit unserem blinden Tapsen um die Welt, mit unserem Grapschen nach dem Glück keine Helena zurück."
"Aber warum machst du dann weiter diesen Job?"
Und als Happy auf diesen allzu prosaischen Einwurf nicht gleich antworten konnte, hakte sie schnell nach: "Ein Job, der dich doch nur davon abhält, endlich deine Dissertation fertigzumachen und dich anschließend um eine Position mit guter Bezahlung zu bemühen. Du bist jetzt Mitte dreißig, Odysseus, wie lange willst ..."
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