Happy zeigte sich von all dem nicht berührt. Auch "Tasha" brachte es nicht fertig, ihn aus der Ruhe zu bringen. Aber diese Ruhe war nicht seine gewöhnliche Gelassenheit, seine Allzeitbereitschaft zu Witzeleien. Einige aus der Gruppe sahen es genauer: Das war eher Resignation. Wenn ich erst wieder zuhause bin, überlegte Happy, ja, wenn überhaupt, dann werde ich mich jedenfalls nur noch mit Pflanzen umgeben. Sträucher und Blumen als mein Gegenüber. Daß sie mich mit ihrer unendlichen Geduld anstecken. Diese Gleichgültigkeit des Grünzeugs gegenüber den Menschen, dieses auf sich selbst Konzentriertsein. Beneidenswert. Wie hatte der pensionierte Richter ihm am Nachmittag gesagt: "Sie sehen aus, als wären Sie des Handelns müde, als hätten Sie nur noch Lust zum Denken." Und hatte dann noch erklärt: "Das ist ein Zitat von André Gide. Muß für Sie als Literaturwissenschaftler ja wohl bekannt sein."
Müde ja, und nicht nur das, hatte er gedacht - und nicht gesagt. Er hatte genug von den Leuten. Vier Wochen diese Menschen um sich, Tag und Nacht, das war mehr als genug, war unerträglich. Dabei sind sie nicht schlimmer gewesen als die in anderen Gruppen, mußte er sich zugeben. Die meisten wenigstens. Aber mit jeder neuen Gruppe das gleiche: Immer wieder neue Menschen und doch kaum mal was Neues. Immer nur Leute. Und gegen Ende der Reise dann dieses Gefühl, man könne es nicht mehr ertragen. Weil aller Reiz des Neuen dahinschmilzt wie Eis in der Sonne. Was da übrigbleibt, das ist die immer gleiche Unansehnlichkeit. Die meisten schonungslos alt und häßlich. Daß sie sich nicht zuhause verstecken. Ab dreißig ist man für sein Gesicht verantwortlich, sagte er sich manches Mal schaudernd. Anfangs, als er noch neugierig auf Frauen gewesen war, als er nur immer die Gelegenheit und dann den Punkt gesucht hatte, der sie tanzen ließ, als sein frischaufgedrehtes Spielzeug, damals hatten ihn die zerstörten Gesichter nicht gestört. Überhaupt nicht gesehen. Erst seit wenigen Jahren war das Dilemma für ihn sichtbar - und seitdem unübersehbar: Die schmalkniffigen Münder, die zerfingerten Nasen, die lichtlosen Augen. Und da meinten diese Frauen immer noch, in den einschlägigen Magazinen einschlägige Tips finden zu können gegen kleine Schönheitsfehlerchen: Gegen lose Haut unterm Kinn und Fältchen um die Augen und rote Ohren und für feineren Schwung der Augenbrauen, zur Kräftigung der Fingernägel. Einfach lachhaft. Und die Dreistigkeit, sich einem jungen Menschen, einem Mann in den besten Jahren so zu präsentieren. Wenn sie wenigstens Eleganz gezeigt hätten. Aber nein. Oder wenigstens die Schönwürde des Alters. Aber auch das nicht. Nur immer diese untauglichen Versuche, in den Jungbrunnen zu springen. Und diese flachgehende Neugier und gelangweilte Konsumlust. Und trotz alledem der unstillbare Wunsch nach einem Aufflackern in den Augen des Reiseleiters. Und dann dieses Sonder-Angebot von gestern nachmittag, das hatte ihn in einen brunnentiefen Zustand der Verzweiflung fallen lassen.
Happy war, wie auf anderen Reisen so auch auf dieser, innerlich mehr als einmal aus der Rolle gefallen. Doch scheinbar blieb er immer noch Herr der Situation, wenigstens scheinbar der allzeit Überlegene. So, wie er seiner China-Gruppe im ersten Augenblick erschienen war. Am ersten Tag, unmittelbar vor dem Start in Frankfurt: Ein selbstsicherer Mann, groß, dunkelhaarig und vollbärtig, mit langen Schritten auf sie zugehend. Mit schnellen Blicken die passenden Kofferschilder erspähend. Um seine Gruppe beiseite zu bitten, sich ihr mit einer kleinen Ansprache vorzustellen: "Ich begrüße Sie sehr herzlich, auch im Namen meiner Gesellschaft und ganz Chinas. Ich bin happy. Und so heiße ich als Reiseleiter auch. Nennen Sie mich also einfach Happy und um Gottes willen nicht Erich Karl-Alfred Herckenrath, wie es in Ihren Unterlagen steht. Und auch nicht Herr Happy. Ein Reiseleiter ist kein Herr. Er muß nur immer Herr der Lage sein. Ja, also, ich bin Ihr Reiseleiter. Wir werden jetzt vier Wochen lang gemeinsam durch China reisen. Ach, was heißt reisen. Wir werden es erobern, werden es beäugen, erleben und kritisch durchleuchten. Und Sie können happy sein, daß Sie mit mir unterwegs sind, denn bei mir gibt es immer gutes Fotowetter und gutes Essen und gute Betten und so fort, also alles, was man fürs Happysein braucht." An der Stelle hatte er - wie immer – die erste Lachpause gemacht.
"Ja, im Ernst, Sie können froh sein, daß Sie nicht an so einen Langweiler als Reiseleiter geraten sind, der sich nur für die Kunstgeschichte interessiert oder nur für die Ornithologie oder - noch schlimmer - nur für die Geologie. Ich sage es Ihnen gleich, damit Sie sich nicht damit aufhalten müssen, mich vorsichtig auszufragen: Ich habe ein paar Semesterchen Wirtschaftswissenschaft studiert, aber keinen Gefallen dran gefunden. Da habe ich nur gelernt, daß der Tourismus weltweit die größte Wachstumsindustrie ist. Daß sich also alles um Sie, die Reisenden, dreht. Dann habe ich Literaturwissenschaft und Geschichte studiert, meinen M.A. gemacht und bin jetzt an meiner Doktorarbeit, und das schon seit vielen Jahren. Und wohl auch noch für den Rest meines Lebens, weil ich mir zwischendurch als Reiseleiter meinen Unterhalt verdienen muß. So, jetzt wissen Sie Bescheid über mich, und wir können uns um China kümmern."
Und bei einem schnellen Blick über den Kofferpulk. "Da und da fehlen noch die Kofferschilder unserer Gesellschaft. Wenn Sie die bitte noch anbringen vor dem Einchecken. Mein Unternehmen legt allergrößten Wert darauf. Fragen Sie mich nicht, warum."
"Ach Gott, das fängt ja gut an", kriegte er prompt von einer Dame zu hören. "Die müssen wir miteingepackt haben." Da konnte Happy sich gleich das erste Mal als Helfer in der Not erweisen: Zwei Ersatzpappen aus seiner Reisetasche.
Und konnte dann seine Vorstellung, die vielerprobte Ouvertüre zuendeführen: "Ach ja, das gleich auch noch: Das Thema meiner Dissertation lautet: , Homers Odyssee als zeitunabhängig gültige Parabel der Identitätssuche des Menschen. ‘ Sie sehen, das hat mit uns hier und heute nichts zu tun, braucht uns also nicht zu kümmern. Mit meiner Literaturwissenschaft können wir in China überhaupt nichts anfangen. Ihr Reiseleiter ist also kein Fachidiot, er ist eher ein Generalist. Von mir werden Sie deshalb ganz anderes über China hören als von jedem anderen. Über seine lange Geschichte, seine hohe Kultur, seine desolaten Verhältnisse, die aktuellen Schwierigkeiten, die Öffnung zum Westen hin, die Kapriolen der Wirtschaftspolitik, die Menschenrechtsfrage und so fort. Aber wohlgemerkt, ich erzähle Ihnen nichts, was Sie nicht betrifft. Bei mir sollen Sie nicht bloß das Objekt der Tourismusindustrie sein, sondern sein Subjekt. Wenn Sie nach dieser Reise ins Unbekannte Ihren Heimatort wiedersehen, dann werden Sie es erst so richtig zu schätzen wissen, wie schön, wie sauber, wie ordentlich daheim alles ist. Aber auch wie belanglos. Was Ihnen nämlich zuhause fehlt, das ist das Erlebnis. Und dieses Erlebnis, das werde ich Ihnen in den nächsten Wochen bieten."
"Schön."
"Sehr gut."
"Angenehm." Schüchterne Ansätze von Applaus.
"Aber, - sehen Sie mich bitte nicht als Alleinunterhalter an. Ich bin nicht dazu da, Sie zu unterhalten. Das wäre zu simpel. Sie müssen schon mitmachen. Was nicht schwer ist. Stellen Sie sich vor, so eine Reise ist ein Buch, das Sie lesen. Sie sind ja Menschen, die noch wissen, was das ist: ein Buch, so darf ich unterstellen. Sie kennen dieses extrem interaktive Erlebnis des Bücherlesens. Wir werden China wie ein Buch durchgehen, werden Seite für Seite dieses geheimnisvollen Landes aufschlagen, mit wachen Augen lesen und in uns aufnehmen. Sie brauchen sich nur für alles Neue, alles Überraschende offenzuhalten, vorurteilslos und einfach staunend. Wir machen gemeinsam den Ausstieg aus Ihrem Alltag. Sie sind jetzt Aussteiger auf Zeit, Artisten, die allerdings mit Netz und doppeltem Boden arbeiten. Ja, zu Ihrer Sicherheit. Da hat unsere Organisation vorgesorgt, sie stellt uns zu allem Überfluß auch noch überall einheimische Führer zur Verfügung. Dennoch sind Sie als Reisende richtige Artisten. Wenn Sie richtig mitmachen. Und das sollten Sie sich vornehmen. Denn ich will, daß Sie genau wie ich sind, nämlich happy. In diesem Sinne auf ins Land der roten Mandarine oder ins Reich der Mitte - ganz wie Sie wollen! Wir checken jetzt ein. Danach gehen wir sofort durch in den Warteraum. Nach nur neun Stunden Non-Stop-Flug sind wir in Peking oder - wie der Kenner sagt - in Beijing. Also denn: Yil— sh—nfeng - das heißt: guten Wind auf allen Wegen!"
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