Nun sah sie ihn wieder so stummscheu und doch auch vertrauensselig an, die Ein-Kopf-Distanz mit einem unverwandten Aufblick überbrückend, hellblau. Genau so hatte er sie in Erinnerung behalten. In weißer Bluse und buntem Rock. Und mit den schwarzen Riemchenschuhen, die ihm so gefallen hatten. Nicht flach und nicht hochhackig, einfach genau richtig.
Und wieder wie schon früher dieser Widersinn, daß ihm ihr Anblick so gefiel, wie sie da reglos vor ihm stand, wortlos, und sich betrachten ließ, daß er sich nicht zurückhalten konnte, das schöne Standbild zu demontieren. Daß er die Bluse öffnete, langsam, Knopf für Knopf, um sie von den Schultern und Armen zu streifen, sie mit Schwung wegzuwerfen. Daß er über den Büstenhalter fuhr, seine beiden Hände als Schalen um die Schalen legte, sie leicht anhebend - wie sie wiegend - und leicht drückend. Und daß er dann um die warm-weiche Statue herumgriff und die zwei Häkchen im Rücken ausklinkte, das störende Utensil einfach fallenließ und ihre Brüstepracht streichelte. Dieses nachgiebig Feste, Heiße. Um dann ganz schnell den Rockbund aufzuhaken, um sie im Höschen vor sich zu sehen. Dabei stieg sie schon aus den Schuhen und huschte ihm unter den Händen weg, ins Bett. Das Höschen, er erinnerte sich, zieht sie immer selbst runter und immer erst unter der Bettdecke.
Das Beijing International Hotel begeisterte seine Gäste. Happy sah und hörte es am nächsten Morgen mit Schaudern. Einer von diesen Kästen im internationalen Protzstil, die überall ein klein wenig anders und doch alle gleich aussehen. Wie gerade erst rübergeholt aus Los Angeles oder Johannisburg oder Sydney. Das einzig Besondere: Im Foyer und auf allen Fluren, einfach überall, die Mädchen, die herumstehen wie Statuetten. Wie zu Königinnen verkleidete Elfen in Habachtstellung. Feinmodellierte Gesichter aus Biskuitporzellan. Um die Augen diese überraschende Variationsidee der Natur, die raffinierte Vereinfachung. Um so ausdrucksstärker die dunklen Blicke der Mädchen. Sehr junge Mädchen, sehr grazil. Das gefällt den fülligen deutschen Gästen. Kein Gedanke daran, daß die Elfen nur hier herumstehen, weil es viel zu viele von ihnen gibt. Und daß ihnen zum Fettwerden das Futter fehlt. Der weitere Unterschied zur amerikanischen McDonald's-Kultur ist gerade nur noch, daß die übertriebene Dienstbereitschaft fehlt. Die Elfenköniginnen stehen halt nur dekorativ da in ihren langen, enganliegenden Kleidern im Hotellook, hochgeschlitzt. Wie von einem geschickten Dekorateur überall dort aufgestellt, wo die Architektur einen mit Öde und Kälte überfallen will. Mit diesem holden Lächeln und dem ewigen Good-Morning auf den Lippen. Die frappierende Sprachvirtuosität der Mädchen geht gelegentlich sogar bis zum Guten-Morgen. Mehr aber ist nicht mit ihnen anzufangen. Soll nur niemand versuchen, sie einmal etwas zu fragen. Ihre Ausbildung ist offenbar über einen Schminkkurs nicht hinausgekommen. Und wehe, wenn da so ein deutscher Hagestolz versucht, eins von den Mädchen zum persönlichen Gebrauch mit auf sein Zimmer zu nehmen. Die eiskalt sozialistische Prüderie ist beinahe das letzte, was hier vom Sozialismus übriggeblieben ist.
Hauptsache, die Reisenden sind zufrieden. Daß im Lift die Plakette eines deutschen Herstellers hing, wurde mit Wohlgefallen bemerkt. Daß das Zimmer, vor allem Bett und Bad, nicht deutsch sondern amerikanisch war, gefiel erst recht. Die gleiche positive Überraschung beim Frühstück. Aber dann gingen sie hin und drehten alles und jedes dreimal um, weil sie wissen mußten, wo es herkommt: Die Butter aus Neuseeland, die Marmelade aus der Schweiz, doch der Zucker verriet seine Abstammung nicht. Und Happy mußte schon am frühen Morgen erklären, erklären, erklären. Auch, daß den Chinesen Milch und Milchprodukte fremd sind. Schon ging das Gerede über Enzymunverträglichkeit los. Wie die Juden mit ihrem Schweinefleisch. Wie die Araber auch. Man kennt das ja: Immer gibt es mindestens einen in der Gruppe, der alles noch besser weiß. Daß die Wirtschaftsbeziehungen zum sozialistischen Bruderland Kuba noch bestehen, aber nicht mehr so intensiv sind, weil die Kubaner keine Devisen haben, servierte er ihnen zum Frühstückskaffee. Zuviel Zucker als Bezahlung macht halt jeden Handelspartner sauer. Kein Widerspruch. Offensichtlich niemand in der Gruppe, der die Reise aus marxistisch-leninistisch-maoistischer Überzeugung macht. Angenehm. Zwar hatte der Schiffsingenieur schon Luft geholt, um was zu sagen. Doch hatte ihn seine Frau mit einem bühnenreif kräftigen Ellbogenstoß in die Seite erfolgreich davon abgelenkt.
Man wartete noch auf den örtlichen Reiseführer. Also hatte Happy die Chance weiterzuerzählen. Daß Peking, der Regierungssitz, nur die zweitgrößte Stadt des Landes sei, rangmäßig erst nach Shanghai komme. Und daß die chinesische Hauptstadt genau so eine extreme Randlage aufweise wie Berlin. Wie übrigens auch Washington. Weitere Beispiele kamen aus der Gruppe. Dann trat der chinesische Führer mit einem fröhlichen Guten-Morgen auf und lud zur Stadtrundfahrt ein. Und schon wurden Happys Angaben ergänzt, schon wurde brav mit Staunlauten quittiert, daß es in Peking-Stadt nur sechs bis sieben Millionen Einwohner gebe, im Kreis Peking aber rund zwölf Millionen. Und daß die etwa acht Millionen Fahrräder bewegen.
Happy saß stumm hinter Herrn Li und beschäftigte sich damit, die Räder mit Gangschaltung zu zählen, und kam dabei nicht über ein Dutzend hinaus. Hier fährt man also noch mit Primitivrädern ohne jede Schalthilfe und sogar ohne Rücktritt. Und da redet man vom Land des Fahrrades. Kaum über das Laufrad des Freiherrn von Drais hinaus. Irgendwem fiel auf, daß die Fahrräder fast alle ohne Beleuchtungsanlage waren.
"Na und, bei uns haben alle Fahrräder Beleuchtung, und doch fahren die meisten im Dunkeln ohne, weil es sich so leichter fährt, so ein bißchen leichter", schimpfte einer der Reisenden los. "Dafür riskiert man bei uns gern sein Leben."
"Es sind ja zum Glück nur die Dümmsten, die bei uns ohne Licht fahren. Und wenn die dabei verunglücken, das ist dann natürliche Zuchtwahl", beruhigte ihn ein anderer.
Und Happy erinnerte sich, wie das mit den Fahrrädern ohne Beleuchtung einem seiner Reisenden in Nordnorwegen aufgefallen war. Die Erklärung eines Einheimischen hatte er nur zu gern weitergegeben: Im Sommer brauchen wir kein Licht am Fahrrad, weil es die ganze Nacht durch hell bleibt, und im Winter brauchen wir es nicht, weil das Fahrrad im Schuppen bleibt; denn draußen liegt der Schnee dann drei Meter hoch. Nun gut, das galt am Nördlichen Polarkreis. Aber hier, etwa dreißig Grad südlicher? Die Beleuchtung sei früher Pflicht gewesen, erklärte der örtliche Führer. "Aber eine Beleuchtung ist sehr teuer. Das war zuviel Aufwand für die einfachen Leute. Deshalb ist diese Pflicht bei der Kulturrevolution abgeschafft worden."
Aha, verstand und verschwieg Happy vorsichtshalber, manchmal bringt eine Revolution ja doch etwas für den kleinen Mann. Wenn auch nur eine klitzekleine Kleinigkeit. Wie war das noch bei der 1848er Revolution in Berlin? Fast das einzige, was die Leute erreicht haben, war, daß sie endlich auch auf der Straße rauchen durften. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.
"Bis etwa 1950", so erklärte Herr Li in bestem Deutsch weiter, "bestand Peking aus unzähligen ebenerdigen Häusern, die jeweils um einen rechteckigen Hof herumgebaut waren. Sogenannte Hofhäuser, jeweils von einer Familie bewohnt. In den fünfziger Jahren gab es dann eine große Veränderung." Wie dezent so ein staatlich geprüfter Führer sich ausdrücken kann: große Veränderung. Es lohnt sich schon, genauer hinzuhören, amüsierte Happy sich.
"Die Häuser wurden alle verstaatlicht, und schon bald mußten jeweils mehrere Familien in einem Hofhaus wohnen, in jedem Raum eine, weil es nicht genügend Häuser gab. Da war natürlich für manche Dinge kein Platz mehr. So gab es dann für mehrere solcher Hofhäuser mit ihren jeweils vier bis fünf Familien irgendwo abseits eine Gemeinschaftstoilette."
Читать дальше