Das, was wir heute Psychotherapie in tiefenpsychologischer Hinsicht nennen, besteht in nichts anderem, als das wachsen zu lassen, zu betrachten, zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen, was in unserem Inneren lebt und sich regt, und zwar mit einem unbedingten Vertrauen, dass das Gute in uns siegen wird. Nur: Woher bekommen wir dieses Vertrauen? Wir Christen erhalten über das Gleichnis eine Antwort: Wir sollten Gott im Ganzen zuversichtlich zumuten, dass er die Welt und uns selbst als einen Teil davon richtig und nicht falsch geschaffen hat. Alles, was in unserer Seele vorhanden ist und sich meldet, hat auch das Recht, gelebt zu werden. Es gibt keine Wunschregung, keine Fantasie, keine Neigung in unserem Inneren, die nicht berechtigt wäre, zur Kenntnis genommen zu werden. Zu fragen ist lediglich, was in der Realität umzusetzen ist und was schöne Fantasie und Wunsch bleiben sollte. Um zu einer reifen Entscheidung zu kommen, ist die Unterscheidung wichtig, ob es sich um eine unreife narzisstische Fantasie handelt oder um eine Fantasie, die aus Angst nicht umgesetzt werden kann. Es ist eine entscheidende Erkenntnis und Lebenskunst, Dinge, die sich in unserem Inneren entfalten, nicht auszurotten und zu bekämpfen, sondern wachsen zu lassen. Auch Fantasien, Regungen und Wünsche, die sehr belastend sein können, zum Beispiel wenn es sich um Mordfantasien oder sexuelle Fantasien handelt, sollten an die Oberfläche gehoben und angeschaut werden. Wenn es sich dann um destruktive Fantasien handelt, die auf den Menschen selbst oder auch auf die Außenwelt gerichtet sind, so ist es wichtig, sich Hilfe zu holen und verstehen zu wollen, wo die Motive liegen.
Die Frage, was dann sinnvoll ist, können wir als Individuen nur für uns selbst beurteilen. Immer dann, wenn sich Menschen gegenseitig vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, wenn einer dem anderen sagt, was richtig oder falsch ist, wird er damit nichts Gutes bewirken, sondern vielmehr Widerstände hervorrufen und Unkraut säen.
Wie man nun die Geduld findet, innerlich alles wachsen zu lassen, was vorhanden ist, wie man das rechte Maß findet, das ist die Sehnsucht, deren Erfüllung wir häufig unser ganzes Leben nachjagen. Aber es gibt kaum ein anderes Gleichnis im Neuen Testament, das so viel Vertrauen in das individuelle menschliche Leben setzt, wie dieses, das so therapeutisch mit unserer Angst, mit unserer Unruhe, mit unserem Willen zur Perfektion und mit unseren moralischen Ansprüchen umgeht. Mit Recht wird also in diesem Gleichnis darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, das scheinbare Unkraut auszureißen, sondern dass alles, was sich in unserer menschlichen Seele befindet, wichtig ist, betrachtet zu werden. Das im Menschen Vorhandene verträgt keine Einschränkungen, keine Begrenzung. Es geht vielmehr darum, auch das, was uns bedrohlich erscheint, verstehen zu wollen und ins Bewusstsein zu heben. Es muss nicht mehr entschieden werden, ob etwas gut oder böse ist, sondern es geht darum zu verstehen, ob auch Negatives und vordergründig Belastendes zum eigenen Reifungsprozess einen wichtigen Beitrag leisten kann.
Wenn wir uns als Geschöpfe Gottes verstehen, wäre es einfach, daraus zu schließen, dass Gott offenbar einen lebendigen Austausch von allem wünscht, dass er keine klare Welt, keine reine Ordnung, die nach äußeren Gesetzen funktioniert, geschaffen hat. Es ist wichtig zu sehen, dass wir Menschen Wesen sind, die ständig unterwegs sind: Suchende. Nicht-Wissende. Sich Mühende. Unvollkommene, ständig umhertastend, um herauszufinden, was Irrtum und Wahrheit ist. Das ist jedoch auch das Spannende an unserem Leben. Und gerade heute sehen wir, dass der fanatische Wille der Guten, die menschliche Geschichte und nach Möglichkeit die ganze Natur von allem Negativen, von jedem Schatten, von jedem Unheil zu reinigen, genau das Gegenteil bewirkt. Fundamentalistische religiöse Strömungen in jeder Religion, die von sich behaupten, genau zu wissen, was Gott will, haben am furchtbarsten und grausamsten gewütet. Diesem Willen zum absolut Guten verdanken wir Heilige Kriege, die sogenannte Hexenverbrennung im Mittelalter, die Zerstörungen von Tempeln und religiösen Symbolen überall auf der Welt und durch alle Menschheitszeitalter. Im Namen der Reinheit werden die schlimmsten Säuberungsaktionen vorgenommen, die schlimmsten Verbrechen begangen, nimmt die Unbarmherzigkeit in der Welt zu. Das Schlimmste daran ist jedoch, dass Menschen dies häufig mit bestem Gewissen und aus guten Absichten taten und tun, weil sie glauben, auf der Seite der Wahrheit zu stehen.
Das gilt nicht nur für gesellschaftliche Gruppierungen, sondern findet sich auch im seelischen Erleben einzelner Menschen wieder. Von klein auf hören viele Menschen auch heute noch: Wir müssen das Böse unterdrücken und beherrschen, jeden Tag moralisch einwandfrei leben, alles, was störend ist, niederhalten und verdrängen. Daraus entstehen »Unkraut« und Missgunst. Gott will, dass wir nichts auseinanderreißen, sondern gerade aus der Spannung, aus den Gegensätzen, aus den Widersprüchen reifen, am Leben teilnehmen und daraus das rechte Maß entwickeln.
Das rechte Maß zu finden heißt daher nach diesem Gleichnis: nichts ausreißen und nichts zerstören, was in uns vorgeht. Wir lernen, dass kein menschliches Problem dadurch gelöst wird, sich mit schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch zufriedenzugeben, sondern dass neben dem Positiven auch Negatives da sein darf, dass neben dem Korn auch Unkraut wachsen muss, damit sich das gesellschaftliche, aber auch das individuelle Leben sinnvoll entwickeln kann. Insofern ist es eine Grundaussage: Bei Gott darf alles wachsen. Wenn wir dieses Vertrauen in Gott haben, warum nicht auch in den Menschen, der eine in den anderen? Das Anerkennen, dass in uns und auch im anderen alles wachsen darf, schafft Beziehungen in Ehrlichkeit und Wahrheit, die ein kreatives und lebendiges Leben möglich machen.
Bernd Deininger
Die Mächtigen – als Täter und Opfer • Matthäus 14,1–12 und Markus 6,17–29
Johannes der Täufer gilt als Wegbereiter Jesu und als dessen Lehrer. In den Evangelien bei Markus und Matthäus werden die besonderen Umstände seines Todes mit einem dramatischen Akzent versehen, weshalb diese Geschichte eine starke und anhaltende literarische Verwertung erfuhr. Hier stehen sich große Gegensätze gegenüber: Es geht um Recht und Ordnung gegen Leidenschaft, um Körperlust gegen Tod, um Schönheit und Ästhetik gegen Brutalität und Grausamkeit, um verführerischen Tanz und bedrohlichen Absturz.
Die Figur der Salomé ist in den biblischen Quellen nicht begründet. Sie kommt aber namentlich bei dem bedeutenden Geschichtsschreiber des jüdischen Volkes, Flavius Josephus, vor. Er berichtet von einer Salomé in den »Antiquitates Judaicae«. Salomé bewegt sich innerhalb der komplizierten Beziehungen des Herodes-Hauses, die von Inzest und Mord geprägt sind. Ihre Mutter Herodias hat sich von ihrem ersten Mann Phillippus, einem Bruder des Herodes, getrennt und in zweiter Ehe Herodes geheiratet. Salomé entstammt ihrer ersten Ehe, der im biblischen Text beschriebene Herodes Antipas ist also nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr Stiefvater und Onkel. Herodes hat wegen der leidenschaftlichen Liebe zu Herodias seine erste Frau verlassen und seinen Bruder (eigentlich Halbbruder) verstoßen. An diese Genealogie des Herodes-Hauses, die von Flavius Josephus niedergelegt ist, knüpfen die Evangelisten an, verbinden die historische Salomé-Figur mit der Geschichte von Johannes dem Täufer und bringen sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dessen Enthauptung.
In der Erzählung werden zwei Grundmotive deutlich. Das erste ist der Konflikt zwischen Herodes und Johannes: der eine lebt im Luxus, der andere nimmt freiwillig Entbehrungen auf sich und wird so zum Propheten und Vorbild für viele Menschen. Das zweite und destruktivere Motiv ist die Feindschaft der Herodias gegenüber Johannes, die es dem Propheten verübelt, dass er auf den doppelten Ehebruch des Königspaares hinweist. Die biblische Erzählung geht zudem auf eine frühere Erzählung aus dem antiken Rom zurück. Der römische Schriftsteller Livius berichtete nach einer Anklageschrift des Cato, dass der Konsul Flaminius etwa 192 v. Chr. während des Krieges gegen die Gallier bei einem Mahl einen Gefangenen erschlug, um seinen Lustknaben das Schauspiel einer Enthauptung zu bieten. Das wurde in die Erzählung des Johannes auf die geeignete Konstellation in Judäa übertragen. Die weibliche Rolle in der biblischen Geschichte wurde auf zwei Personen verteilt: die intrigante Mutter und die bestrickende Tochter.
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