Was passiert aber, wenn es nicht wahr sein darf, was geschehen ist, wenn der Betroffene mit diesen Wahrheiten überhaupt nicht leben kann? Wenn er, um weiterleben zu können, die Gefühle von Schuld und Vorwurf zur Seite schieben muss? Wie geht es Menschen, die in ein wirkliches Leben, in dem sie eine Chance haben, glücklich zu werden, nur um den Preis der Schuld eintreten können und hinter ihre Entscheidung dazu weder zurück wollen noch zurück können? Und dann stehen sie einem Menschen gegenüber, der nicht aufhört zu sagen: »Ehe sich diese Tatsache in deinem Leben nicht ändert, kann nichts in Ordnung kommen. Du kannst so nicht weiterleben, du musst wieder zurück«. Es gibt aber kein Zurück. Das versteht dieser Mensch mit seiner Moral und seiner Rechthaberei jedoch nicht. Was weiß er schon von der Liebe und den Gefühlen einer vernachlässigten und unglücklichen Frau? Er kennt keine tiefergehende Beziehung zu einem anderen Menschen, weil er asketisch lebt und nur Moral und Ordnung gelten lässt.
Es gibt auch noch weitere Tatmotive, zum Beispiel bei Herodes selbst. Er wollte eine Frau, mit der er eine leidenschaftliche Liebe leben kann. Warum also sollte er diese Frau öffentlich beleidigen lassen? Diesem Mächtigen fällt es jedoch schwer, sich mit der Schuld auseinanderzusetzen, die er auf sich geladen hat, als er die Frau seines Bruders zur Geliebten und Gattin nahm. Er versteckt sich hinter den Frauen, schiebt die Entscheidung Herodias und ihrer Tochter zu.
An dieser Stelle kommt dann die junge Frau in die Geschichte. Sie fordert den König zu einem Verbrechen auf, an dem sie selbst eigentlich kaum ein Interesse hat. Sie ist lediglich gehorsam ihrer Mutter gegenüber und fordert den Kopf des Täufers aus der Treue eines Kindes zu seiner Mutter. Aber es geht auch um mehr. Die Kulturgeschichte hat gezeigt, dass in Dichtung, Musik und Malerei der Tanz der Salomé in seiner morbiden Laszivität aufgegriffen und entsprechend dem Zeitgeschmack interpretiert worden ist. Die Tochter der Herodias wurde zum Inbegriff der tödlichen Macht weiblicher Verführung. Die Angst vor der kastrierenden Frau und die Sehnsucht nach der Kindfrau verschmelzen hier zu einem faszinierend-gruseligen Albtraum. Der weibliche Eros, der in Salomé Gestalt gewinnt, mobilisiert die männliche Lust zur Zerstörung, die Grausamkeit des Begehrens und den tödlichen Wunsch, zu besitzen.
Salomé bleibt die mächtige Verführerin, die ihrer Mutter zeigt, dass der lüsterne Stiefvater eigentlich lieber zu ihr ins Bett steigen würde als zu seiner alternden Gattin. Unter dem Mantel der Treue des Kindes zu seiner Mutter zeigt sich die Rivalität zwischen Frauen, die gnadenlos mit ihrer erotischen Kraft versuchen, sich gegenseitig auszustechen. Dieser ödipale Konflikt wird über den biblischen Text hinaus insbesondere in Oscar Wildes Tragödie dargestellt.
Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf die gesamte Motivkette der Akteure dieses biblischen Dramas: Am Anfang steht die Schonung des Täufers aus der Angst des Königs vor der Meinung der Masse. Dann gibt es den Mut zum Ehebruch aus einer nicht erfüllten Liebe, entwickelt sich Hass auf den Menschen, der die Moral einklagt, um ein Leben zu schützen, das nie mehr in Ordnung kommen kann. Ein Eid wird geschworen, der wie ein Zwang wirkt, am Ende das zu tun, was man versprochen hat, und daraus entsteht eine Geschichte, in deren Mitte Menschen stehen, die vieles eigentlich nicht wollten, was sich so dramatisch ereignet hat. Sie sind sowohl Opfer als auch Täter, Getriebene ebenso wie Treibende.
Wie können wir nun in einer Welt zusammenleben, in der es Menschen gibt wie Herodes, Herodias, Salomé und all die anderen, die exemplarisch für unsere heutige Zeit stehen? Ein Weg wäre die Haltung Jesu, die uns eine andere Sichtweise ermöglicht. Stellen wir uns vor, es gäbe keine Vorwürfe mehr, nicht länger das Drohen mit erhobener Faust, sondern wir würden die Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, über eine längere Zeit begleiten. Herodias zum Beispiel müsste lernen, wie sie ihr Glück in der Liebe finden kann, sodass es für sie innerlich stimmt. Sie müsste Spielräume für ihre Gefühle zulassen, damit sie spürt, mit sich im Einklang ist und in Verhältnisse hineinfindet, die sie wirklich leben lassen. Ist es so einfach, dass wir sagen: Ehebruch ist Ehebruch und Wiederheirat ist Sünde? Kann man so urteilen, ohne irgendetwas aus der Vorgeschichte der jeweiligen zu wissen? Was geht in einer solchen Frau vor? Wenn man danach nicht fragt, versteht man weder den Menschen noch das, was Gott im Umgang mit Menschen meint.
Und wie bringt man einen Menschen wie Herodes dazu, nicht ständig auf die Wahlumfragen des nächsten Wochenendes zu schielen und zu registrieren, was die Masse denkt und von ihm erwartet? Wie führt man ihn dahin, dass er selbst ein Mensch ist, der aus dem eigenen Inneren entscheidet, der aus eigener Überzeugung lebt, der als Erstes sich selbst Befehle zu geben vermag?
Und schließlich: Wie bringt man Salomé dazu, eine unabhängige Frau zu werden und nicht nur die Erfüllungsgehilfin ihrer Mutter zu bleiben oder die Kurtisane ihres Stiefvaters? Was kann man tun, damit sie Menschen nicht in die Enge treibt, sondern eine Liebe entwickeln kann, die sie mit Stolz erfüllt, statt sich missbrauchen zu lassen?
Offensichtlich lebt keiner von diesen Menschen im Bannkreis der Macht wirklich selbst, das ist das Bedrohliche, das damals und heute Gesellschaften belastete und belastet. Dass jeder auf gewisse Weise innerlich tot war, ehe er selbst anfing zu töten, das ist das Furchtbare.
Damals wie heute bedarf jeder der Akteure eines langen Prozesses seiner eigenen individuellen Erlösung. Deshalb ist Jesus hinzugekommen. Er verkündete nicht die klaren gesetzlichen Anweisungen wie sein Lehrer Johannes, sondern warb für Güte, Verstehen, Mitleid, Reifung, Geduld, für angstfreie Selbstständigkeit. Aber genau das ist für viele Mächtige genauso schwierig wie die Moral- und Gesetzespredigt des Täufers. Doch nicht nur für die Mächtigen ist die Lehre Jesu bedrohlich, sondern für jeden von uns. Fühlen wir uns nicht am Ende auch in unserer eigenen Persönlichkeit bedroht? Ist es nicht für jeden von uns wichtig, dass wir uns mit unseren Schuldgefühlen auseinandersetzen, die im Lauf unseres Lebens aufgetaucht sind? Es ist ein langer Prozess, den wir alle, jeder von uns, zu durchlaufen haben. Das ist es, was uns die Geschichte von der Passion des Johannes aufzeigt: dass Gott uns die Möglichkeit gibt, diesen Weg zu gehen, dass es wahrhaftiger ist, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen, als sich unter eine äußerliche Moral zu stellen, die gegen jede seelische Struktur gerichtet ist. Lassen auch wir uns durch die Botschaft Jesu an die Hand nehmen und begleiten, damit wir unsere Angst verlieren und uns auf den Weg der persönlichen Reifung machen.
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