Das also ist der physische Aspekt: Sie war eine Frau mit einem ernsthaften gynäkologischen Problem.
Diese Jüdin unterstand der jüdischen Kultur und dem alttestamentlichen Gesetz. Nach dem levitischen Gesetz, aufgezeichnet in 3. Mose 15,19–30, galt eine Frau während ihrer normalen Menstruation und weitere sieben Tage danach als unrein. Wenn unregelmäßige Blutungen auftraten, war sie ebenfalls unrein. Darüber hinaus verunreinigte sie ihre Kleidung, ihr Haus, irgendwelche Möbel oder andere Gegenstände, die sie berührte, sowie jeden Menschen, mit dem sie Kontakt hatte.
Diese Frau war also zwölf Jahre lang unrein gewesen und hatte die Welt um sie her ebenfalls verunreinigt. Falls sie verheiratet war, hatte sich ihr Mann bestimmt längst von ihr scheiden lassen. Ihre Familienangehörigen hatten sie vermutlich im Stich gelassen und Freunde hatte sie keine mehr. Wie konnte sie Freunde haben, wenn die ständig Gefahr liefen, unrein zu werden? Schließlich, so stellt Markus fest, stand sie ohne einen Pfennig da, nachdem sie all ihr Geld für vergebliche Heilungsversuche ausgegeben hatte.
Vielleicht trug diese Frau am schwersten an ihrer inneren Not. Weil sie unrein war, durfte sie nicht in den Tempel zum Gottesdienst gehen. Sie konnte nicht zum Beten dorthin gehen, noch konnte sie Opfer bringen oder um Hilfe bitten. Sie stand völlig ohne soziale Kontakte da und geistlich gesehen war es genauso: sie war abgeschnitten von Gott und verzweifelt. Markus schildert uns also nicht einen »gynäkologischen Problemfall«. Er schreibt die Wahrheit, dass da ein Mensch war, eine Frau, die litt. Ihr ganzes Sein war durch diese Krankheit in Mitleidenschaft gezogen worden.
Eines Tages hörte diese Frau von Jesus, einem bevollmächtigten Mann, der Kranke heilen konnte. In ihrem Herzen keimte Hoffnung. Aber zu Jesus gehen und ihn um Hilfe bitten? Das konnte sie auf keinen Fall. Keine jüdische Frau konnte zu einem fremden Mann gehen, um mit ihm zu reden oder ihn um irgendetwas zu bitten. Falls sie es doch tat, wurde sie als unmoralisch gebrandmarkt. In ihrem jetzigen Zustand würde sie diesen wichtigen Mann zudem kultisch verunreinigen. Ein anderer Mann – ihr Ehemann, ein Bruder oder Freund – könnte zu Jesus gehen und ein Wort für sie einlegen. Doch diese Frau war völlig allein gelassen worden und hatte niemanden, der ihr helfen oder Hilfe vermitteln konnte. Aber eines wollte sie auf gar keinen Fall: aufgeben. Sie war entschlossen, sich auf Gedeih oder Verderb diesem Mann Jesus zu nähern, komme, was da wolle.
Sie entwickelte einen Plan, der verwegen und deswegen gefährlich war. Sie würde sich Jesus von hinten nähern – und zwar mitten in der Menschenmenge – und sein Gewand berühren. Verschwiegenheit und Unauffälligkeit waren das oberste Gebot, denn wenn irgendjemand sie beobachtete, würde sie öffentlich der Verunreinigung Jesu angeklagt und unter Umständen zu Tode gesteinigt werden. Aber sie war schon viele Tode gestorben; was hatte sie noch zu verlieren?
Als sie sein Gewand berührte, spürte sie sofort etwas in ihrem Körper. Es kann ein plötzliches wohliges Gefühl gewesen sein oder Empfindungen in einem Organ, das »in Wallung« geraten war. Was auch immer: es war eine wahrnehmbare physische Veränderung in ihrem Körper. Was für eine Freude muss sie einen glücklichen Augenblick lang empfunden haben! Sie wusste, dass sie geheilt worden war. Dann gab es nur noch eins: schnell verschwinden. Aber das war unmöglich. Dieser Mann Jesus stellte sie bloß. Sie hatte ihn hintergangen. Er war durch sie kultisch unrein geworden. Zudem hatte sie ihm seine Kraft geraubt, und irgendwie hatte er das gemerkt. Jetzt rief er sie, und wahrscheinlich würde sie gesteinigt. So, wie Markus das beschreibt, kam sie, warf sich – längst am Boden zerstört – Jesus zu Füßen und erzählte ihm ihre Geschichte.
Warum hat Jesus diese Frau noch einmal extra hervorgeholt? Er wusste, dass jemand körperlich geheilt worden war, denn Markus schreibt: Jesus spürte, dass heilende Kraft von ihm ausgegangen war . Wir Ärzte sind jeweils hocherfreut, wenn wir jemanden geheilt haben. Hätte sich Jesus damit nicht zufrieden geben können?
Nein, denn die Frau selbst war noch nicht heil geworden. Jesus hatte ihre weiblichen Organe geheilt, aber noch nicht sie als ganze Person, und aus diesem Grunde rief er sie zu sich. Während sie da vor ihm ausgebreitet auf dem Boden lag, jeden Augenblick das Verdammungsurteil erwartend, hörte sie eine absolut unglaubliche aramäische Vokabel, die übersetzt lautet: Meine Tochter . »Meine Tochter«, hörte sie Jesus sagen, sehr sanft und einfühlsam, und dieses Wort machte sie heil.
35 Jahre lang habe ich in Afrika Medizin praktiziert und als Chirurg gearbeitet. Ich habe unzählige Frauen behandelt, die Probleme mit Blutungen und Unfruchtbarkeit hatten. Ich habe Hunderte, wenn nicht Tausende von ihnen operiert. Doch wie oft habe ich etwas gesagt, das zur Heilung der ganzen Person beigetragen hat, das den Geist und die Sinne und Emotionen derer, die krank waren, wieder ins Lot gebracht hat?
Was heilt das zerbrochene Herz und den verwundeten Geist? Was für ein »Eingriff« muss hier erfolgen? Wenn es um Hilfe für den Körper geht, wissen wir in der Regel, wie wir vorzugehen haben. Aber was heilt das Herz?
Das Heilmittel für das Herz ist einfach nur ein Wort, das die Tiefenschichten einer kranken Person erreicht. Es ist ein Schlüsselwort oder eine Aussage, bei der »es klickt«, die jemand begreift, und zwar auf eine Art und Weise, die die psychospirituellen Probleme berührt: Furcht, Konflikte, Ängste, Schuld, Verzweiflung. Wenn dieses Wort einen solchen inneren Schmerz heilt, wird das ganze Selbst aufgerichtet.
Nachdem die inneren Organe dieser Frau geheilt worden waren, war sie aus psychologischer, sozialer und geistlicher Sicht noch nicht gesund, weil alle ihre Beziehungen noch nicht wiederhergestellt waren. Was Jesus jetzt sagte, berührte die Frau in der Tiefe ihres Herzens, sprach die zerstörten Beziehungen an und heilte sie. Mit ihren eigenen Ohren hörte sie Jesus sagen: »Meine Tochter.« In ihrem Geist hörte sie ihn sagen: »Ich liebe dich. Ich akzeptiere dich. Du bist es wert, Glied meiner Familie zu werden. Du bist jetzt geheilt und wiederhergestellt.« Dieses Wort stellte die Beziehung zu ihr selbst, ihr Selbstwertgefühl wieder her. Sie wusste, dass sie in den Augen dieses großartigen Mannes mit Namen Jesus irgendwie wertgeachtet wurde. Ihre Würde war wiederhergestellt, und sofort waren Angst, Ausgestoßensein, und Verzweiflung, die ihr Leben zerstört hatten, verschwunden.
Dieses Wort eröffnete zugleich eine völlig neue geistliche Beziehung. Sie trat durch die Person Jesus Christus in eine Beziehung mit ihrem Schöpfer ein. Sie gehörte jetzt zur Familie Gottes, einer Familie, zu der sie (und wir alle) schon von Mutterleib an hätten gehören sollen. Jetzt durfte sie beten, Gottesdienst feiern, ihre Gaben opfern und ihre Sünden und Unzulänglichkeiten zu seinen Füßen ablegen. Das Leben hatte für sie einen neuen Sinn bekommen.
Indem Jesus sagte: Gehe in Frieden. Du bist geheilt , wurden auch ihre sozialen Beziehungen geheilt. Praktisch hieß das: Sie war nicht länger unrein und konnte wieder mit anderen zusammenleben. Ihre ganze Schande war überwunden, sie konnte in den Kreis ihrer Familie und Freunde sowie in die Dorfgemeinschaft zurückkehren. Das Heilwerden sozialer Beziehungen ist genauso wichtig wie jeder andere Aspekt unserer Genesung. Jesus hatte das bei dieser Frau erreicht.
Menschliches Leben ist Beziehungen. Wesentliches Merkmal des christlichen Lebens sind funktionierende Beziehungen. Wahres Heilwerden stellt verletzte oder zerbrochene Beziehungen wieder her. Im Leben dieser Frau hat Jesus all diese Beziehungen wieder in Ordnung gebracht.
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