»Nein, ich bedaure in diesem Moment nur, dass mein Mann nicht mehr lebt. Ihre kunstsinnigen Betrachtungen würden für ihn zweifellos von großem Interesse sein und …«
»… würden ihn befruchten«, unterbrach Herr Eberlein. »Würden ihn ohne Zweifel außerordentlich befruchten. Ein Künstler braucht ja immer wieder Antrieb von außen her. Aber, um zur Sache zu kommen. Dieses Bild dort, ›Birken im Sturm‹, würde mir für meine Zwecke am besten geeignet erscheinen.«
Irene erschrak heftig, hatte aber unverständlicherweise nicht den Mut, zu sagen, dass das Bild bereits verkauft sei, sondern versuchte vielmehr Herrn Siegmund Eberlein zu beschwatzen.
»Birken im Sturm«, sagte sie und neigte den Kopf zur Seite, als wolle sie das Bild auf etwaige Fehler mustern. »Es ist nicht gerade schlecht. Aber der Bergsee ist besser. Auch der Feldblumenstrauß dort. Diese beiden Bilder hängen nur etwas ungünstig im Licht. Auf alle Fälle würde ich eines davon den Birken unbedingt vorziehen.«
»Sie vielleicht. Aber ich nicht«, antwortete Siegmund Eberlein mit hoch gezogenen Brauen. »So handeln Bauern, gnädige Frau, wenn sie eine schlechte Milchkuh an den Mann bringen wollen. Ich habe gesagt: die Birken; und dabei bleibt es. Wenn Sie das Geschäft nicht machen wollen, tut es mir Leid. Was soll es kosten?«
Da verlangte Irene in kalter Entschlossenheit einen hohen Preis und dachte, dass der Verkauf daran sicher scheitern würde. Sie verlangte sechzehnhundert Mark.
Herr Siegmund setzte wieder seine Brille auf, trat ganz nahe an das Bild heran und dann zurück bis zur anderen Wand, hielt den Kopf eine Weile nach rechts und dann nach links. Dann zog er seine Brieftasche und fragte, ob er einen Augenblick Platz nehmen dürfe, zückte seinen Füllfederhalter und sagte:
»Sie sollten den Nachlass nicht verschleudern, gnädige Frau. Ich bezahle zweitausend Mark. Das Bild wird morgen abgeholt.« Er reichte ihr den Scheck hin.
Einen Augenblick war Irene zumute, als verbrenne sie sich die Finger daran. »Herzlichen Dank.«
Siegmund Eberlein sah sie groß an. »Nichts zu danken. Man tut was für die Kunst. Es war mir eine große Freude, Ihnen ein wenig helfen zu können.«
»Zu nett von Ihnen. Wenn ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen darf? Oder wollen Sie lieber Tee?«
»Kaffee, wenn ich bitten darf.«
Als Irene draußen war, verlor sein Gesicht allen Hochmut und sein Mund wurde wieder so spitz, als ob er pfeifen wolle. »Donnerwetter«, sagte er vor sich hin. »Eine gut aussehende Frau!«
Dann kam Irene mit dem Kaffee und Herr Siegmund hatte inzwischen den Kammerdiener vollständig abgelegt und war Mensch, nur mehr Mensch und Mann in den besten Jahren. Und er hatte Umgangsformen, darüber war kein Zweifel. Irene bewunderte geradezu, wie er die Kaffeetasse an den Mund führte und wie korrekt der Scheitel seines Haares wie mit einem Metermaß gelegt war. Jetzt zog er ein silbernes Etui hervor und bot Irene eine Zigarette an.
»Danke, ich rauche eigentlich nicht.«
»Rauchen Sie nur. Es ist eine gute Sorte. Der Freiherr von Aschleben raucht sie auch.« Schon knipste sein Feuerzeug, eine kleine, bläuliche Flamme schlug hoch und beleuchtete Irenes Gesicht für einen Augenblick.
Dann sagt der Siegmund: »Dieses Schwarz steht Ihnen ausgezeichnet zu Ihrem blonden Haar. Ich habe Sie schon ein paar Mal bewundert, gnädige Frau.«
»Mich? Bewundert? Ich wüsste nicht …«
»Nein, das wissen Sie natürlich nicht. Und ich weiß nicht, ob Sie besonderen Wert darauf legen, von mir zu hören, dass Sie eine schöne Frau sind.«
»Danke für das Kompliment. Aber Sie dürfen mir glauben, dass es mir lieber wäre, ich brauchte nicht in Schwarz zu gehen.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, gnädige Frau, war doch Ihr Verstorbener ein grundgütiger Mensch, soweit ich ihn gekannt habe. Eine Säule der Zuverlässigkeit und der Fürsorge für die Seinen, wenn ich so sagen darf.«
»Ja, und es ist sehr schwer, wenn man plötzlich mit einem halb erwachsenen Sohn allein dasteht.«
»Schwer insbesondere dann, wenn man nicht weiß, dass einem gute Freunde zur Seite stehen würden.«
Irene wurde ein wenig unsicher. Was wollte er denn eigentlich?
»Ich stelle mir das so vor«, sprach er weiter, indem er seine Fingerspitzen gegeneinander stemmte, »dass man sich im ersten Augenblick wünscht auch sterben zu können. Aber dann mildert es sich mit der Zeit, wie sich alle Schmerzen mildern. Man beginnt wieder an das Leben zu glauben – und dass es auch über ein Grab hinweg so etwas geben kann wie ein Aufblühen eines neuen Glückes.«
»Eines neuen Glückes?«
»Ja, ja, gnädige Frau. Glauben Sie, mir ist die menschliche Seele vollständig vertraut. In meinem Beruf erlebt man so vieles. Und gerade Sie, gnädige Frau, Sie sind viel zu jung und – wenn ich mir erlauben darf, es soll beileibe keine Schmeichelei sein – viel zu schön um das Leben schon als abgeschlossen zu betrachten.«
Irene lächelte müde und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Wohin verirrt sich unser Gespräch?«
»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie verwirrt haben sollte. Das lag nicht in meiner Absicht. Es ist nur manchmal so, dass einem das Herz durchgeht. Es ist mitunter ein ganz eigensinniges Ding«, sprach Siegmund Eberlein voller Eifer weiter. »Es gaukelt uns oft Sachen vor, die wir zuerst nicht glauben wollen und dann doch glauben müssen, weil das Herz sich nicht irrt.«
»Glauben Sie das wirklich, Herr –?«
»Eberlein«, half er ihr aus. »Siegmund Eberlein. Ja, das glaube ich wirklich, weil ich es an mir selbst erleben darf. Erschrecken Sie bitte nicht, gnädige Frau, wenn ich Ihnen sage, dass sich meine Gedanken in letzter Zeit dauernd mit Ihnen beschäftigen. Ich bedenke meine eigene Einsamkeit. Sehen Sie, was bin ich denn? Ich habe eine gute Stellung und mir stünde eine Sechszimmerwohnung im Schloss zur Verfügung, wenn ich –«
Da stand Irene auf. »Herr Eberlein! Sie vergessen, dass mein Mann erst knapp drei Wochen tot ist.«
Siegmund Eberlein schlug die Augendeckel nieder. »Entschuldigung. Das weiß ich natürlich. Aber das Herz, das Herz. Bitte, seien Sie mir nicht böse.«
»Nein, aber ich finde doch alles ein wenig verfrüht. Wie soll ich wissen, ob ich jemals wieder heiraten werde! Vorerst ist das andere noch viel zu neu.«
»Ja, natürlich, selbstverständlich. Nur wenn Sie jemals wieder daran denken sollten, ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, dass ich Sie auf Händen tragen würde.« Er stand auf und knöpfte seine Jacke zu. »Vielen herzlichen Dank für die Bewirtung. Und das Bild, ja das wird morgen abgeholt.«
Siegmund Eberlein neigte sich über Irenes Hand. Das hätte ein Prinz nicht formvollendeter tun können. O ja, er war ohne Zweifel ein Mann von Welt. Als er schon beim Gartentürchen draußen war, drehte er sich nochmals um: »Ich werde mir erlauben mich von Zeit zu Zeit in Erinnerung zu bringen, wenn Sie gestatten.«
Irene sah ihm nach, wie er mit leicht tänzelnden Schritten die Straße entlangging, und lächelte um gleich darauf erschrocken zusammenzufahren. Das Bild fiel ihr wieder ein, die »Birken im Sturm«, die eigentlich bereits dem Sägemüller gehörten. Sie hätte es unter gar keinen Umständen zweimal verkaufen dürfen. Die Hände an die hämmernden Schläfen gepresst ging sie langsam ins Haus zurück und setzte sich ins Atelier.
Zu dumm, dass sie sich hatte überrumpeln lassen. Unter Brüdern gesagt, war es einfach ein Betrug. Sie hätte auf ihrer Weigerung bestehen und ehrlich bekennen müssen, dass das Bild bereits verkauft sei. Woher hatte sie plötzlich diese Geldgier?
Sie überlegte hin und her und fand keinen Ausweg. So traf Adrian sie an, als er heimkam. Er merkte sofort ihre Bedrücktheit und fragte, was los sei. Da erzählte sie es ihm. Und Irene sah, wie die Stirn des Knaben rot anlief, wie seine Augen sich umschatteten und sein Mund immer trauriger wurde.
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