Hinter Irene und Adrian stand Goliath, der einzige Bruder des Verstorbenen. Er hieß eigentlich Hermann, aber weil er in seinen körperlichen Ausmaßen einem Riesen glich, hatte Felix ihm diesen Spitznamen gegeben. Goliath besaß im Gäuboden einen Hof mit zweihundertfünfzig Tagwerk und war sich seines Reichtums voll bewusst. Das Verhältnis der Brüder war die ganzen Jahre über mehr als locker gewesen. Es bestand zwar keine offene Feindschaft, man schrieb sich zum Jahreswechsel einen nüchternen Glückwunsch und hielt sonst deutlich Abstand voneinander. Wenn er auf die Trauernachricht von Irene hin doch hergekommen war, so hatte er es nicht aus brüderlicher Zuneigung zu dem Verstorbenen getan, auch nicht aus Verehrung für die aschblonde Schwägerin, die er nie anerkannt hatte, sondern weil ja aus dieser Ehe auch ein Sohn da war, über den er vielleicht seine Fittiche ausbreiten müsste, bevor er auch in das abseitige Fahrwasser geriet, in das sein Vater einst gekommen war.
Unbeweglich, wie ein steinernes Denkmal, stand er hinter den beiden Trauernden. Das Kinn quoll lustig über den steifleinenen Kragen, das rote Gesicht zeigte mehr Hochmut als Trauer. Das schüttere Haar hatte er sorgfältig über den breiten Schädel gelegt um die aufkommende Kahlköpfigkeit zu verdecken.
Als alles vorüber war und sie schließlich nur mehr zu dritt vor dem Grab standen, räusperte sich Goliath, trat näher und wendete die Schleife seines Kranzes nach oben, weil der Wind sie umgedreht hatte. Da stand es nun in goldenen Lettern deutlich sichtbar zu lesen: »Letzter Gruß von deinem Bruder«.
Bitte, was wollte man von ihm mehr? Er grüßte seinen Bruder zum letzten Mal, war so weit hergekommen und war bereit zu helfen, wenn es was zu helfen gab. Aber nun hatte er Hunger und meinte darum, dass es an der Zeit sei zu gehen, weil der gute Felix auch mit langem Herumstehen nicht wieder lebendig gemacht werden könnte.
Sie gingen also ins Dorf zurück, wo sie im Schwabenbräu zu Mittag aßen. Goliath ließ es sich nicht nehmen, die Zeche zu begleichen, und rechnte auch das gleich ab, was die vier Feuerwehrleute fürs Tragen zu bekommen hatten. Danach ging er mit hinauf ins Malerhäusl. Er war schließlich Schwager und Onkel und erst nach dem Kaffeetrinken deckte er in schonungsloser Offenheit den eigentlichen Grund seines Kommens auf.
»Also, wie steht es jetzt? Es ist am gescheitesten, denke ich, wir reden gar nicht lange um den heißen Brei herum und packen die Sache gleich von der richtigen Seite an. Am besten wird sein, du verkaufst das Schneckenhäusl hier und ziehst mit dem Buben zu mir ins Rottal.«
Irene erschrak zunächst ein wenig über diesen Plan, der sie unvorbereitet traf. Gleichzeitig wurde sie ganz starr. Wo solcher Stolz und solche Überheblichkeit gezeigt wurden, musste mit Stolz reagiert werden.
»Verkaufen?«, fragte sie. »Ich wüsste gar nicht, wie ich dazu käme.«
»Jetzt weißt du es noch nicht. Aber in einem halben Jahr wirst du anders denken. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass der Felix mit seiner Malerei Reichtümer hinterlassen hat.«
»Reichtum in dem Sinne, wie du ihn gewohnt bist, freilich nicht«, entgegnete Irene heftig. »Aber für uns zwei reicht es.«
»Soll das vielleicht ein Vorwurf sein? Gegen meinen Reichtum, meine ich.«
»Nein, ich weiß, dass dir, als dem Älteren, der Hof zustand.«
»Das mein ich auch. Und dass der Felix sein ganzes Erbteil verstudiert hat, ohne dass er was Richtiges geworden ist, dafür kann ich ja nichts.«
»Er ist das geworden, wozu ihn seine Begabung und seine Berufung getrieben haben.«
Eine abwehrende Geste mit der fleischigen Hand. »Wenn ich schon das Wort Berufung höre. Die Mutter, Gott hab sie selig, hat haben wollen, dass er einmal Pfarrer wird. Und als er das schon nicht auf sich nehmen wollte, hätte er sein Studium wenigstens auf etwas verlegen können, das später seinen Mann ernährt hätte. Er könnte heute Landrat sein oder so was. Aber …«
»Wir haben deswegen auch nicht gehungert«, unterbrach Irene ihn gereizt.
»Ausreden lassen, ausreden lassen, Schwägerin. Aber stattdessen hat der gute Felix sich weiterhin von der Mutter das Geld schicken lassen fürs angebliche Studium. Dabei hat er die verflixte Farbkleckserei angefangen.«
Da stand Adrian auf. »Ich finde es geschmacklos, Onkel, gerade heute am Begräbnistag, so von meinem Vater zu sprechen.«
»Was denn, was denn?«, wunderte sich der Riese. »Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen.«
»Wie sollst aber du auch in deinem Gäuboden erfahren können, was Rücksichtnahme ist«, sagte der Adrian und leichter Spott klang in seiner Stimme.
Goliath riss die schweren Augendeckel auf und schnaubte gewaltig.
»Sag du bloß nichts über das fruchtbare Fleckchen Gäuboden.«
»Sei ruhig jetzt, Adrian«, beschwichtigte Irene und knüpfte wieder an das vorherige Thema an. »Du hast ja von Farbkleckserei gesprochen vorhin, mein lieber Schwager. Ich nehme dir nicht übel, dass du nichts von der Kunst verstehst. Aber du bringst es gerade so heraus, als ob Felix das Geld nutzlos verschwendet hätte. Es hat ihn doch auch die Akademie Geld gekostet. Aber ich weiß, dafür habt ihr ja nie Verständnis gehabt.«
»Verständnis? Hätte mir das vielleicht imponieren sollen, wenn er, anstatt etwas Richtiges zu erlernen, Frauenzimmer malt? Und ausgestellt hat er die Bilder auch noch! Das hat der Mutter den Rest gegeben. Ja, wenn die Frauen wenigstens was angehabt hätten! Erst daraufhin hat die Mutter ihn fallen lassen.«
Irene konnte sich nun nicht mehr enthalten auch ihrerseits offen zu sein. »Dir kam das aber nicht ganz ungelegen, soviel ich mich noch erinnern kann.«
»Was heißt ungelegen? Fehlt nur noch, dass du sagst, ich sei ein Erbschleicher.«
»Soviel ich weiß, hat Felix dich nie für etwas anderes gehalten.«
»Das weiß ich. Und trotzdem habe ich ihm nie etwas nachgetragen. Im Gegenteil, ich bin heute hergekommen um euch zu helfen. Und wenn du für dich schon die Hilfe ausschlägst, so solltest du wenigstens an deinen Buben denken. Es käme mir nicht darauf an, den Adrian auf meine Kosten studieren zu lassen, allerdings unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Dass er das wird, was sein Vater versäumt hat zu werden.«
»Darauf, Schwager, muss ich dir sagen, dass eine weitere Unterredung keinen Zweck hat. Worauf das Ganze hinaus soll, weiß ich längst. Es geht dir darum, mir meinen Buben abspenstig zu machen. Aber gib dir weiter keine Mühe. Ich müsste sonst annehmen, dass dich wirklich ein schlechtes Gewissen zum Wohltäter am Sohn deines Bruders werden lassen möchte.«
Die dicken Brauenbüschel zogen sich nervös zusammen. Die Unterlippe des Großbauern aus dem Rottal zuckte ein wenig; vor Spott oder vor Zorn, das war nicht recht auszumachen.
»Woher hast du denn diesen Stolz?«, fragte er. »Du hast wohl vergessen, dass du auch bloß einmal ein Modell gewesen bist und …«
»Nun ist es aber genug!«, schrie Adrian. »Du beleidigst nicht nur meine Mutter, sondern auch den Toten in seinem Grab.« Er stand auf, riss die Tür weit auf und deutete mit ausgestreckter Hand auf den Fußweg, der durch den Wald führte. »Wenn du der blauen Markierung nachgehst, ist das der kürzeste Weg zum Bahnhof. Es reicht gerade noch für den Zug in einer halben Stunde.«
Hatte der Mann tatsächlich kein Feingefühl oder prallte der ihm so offen gezeigte Zorn an seiner Stiernackigkeit einfach ab? Jedenfalls war er nicht im Mindesten beleidigt und ging ganz langsam hinaus. Im Garten blieb er nochmals stehen und ließ Adrian wissen, dass es gescheiter wäre, statt der vielen Blumen mehr Gemüse zu pflanzen.
Dann ging er hin, der Goliath, trug den schweren Mantel über dem Arm und wandte sich nicht einmal um. Irene wusste zwar nicht recht, ob das offene Feindschaft war, jedenfalls würde sie ihm von sich aus nun auch nicht mehr zum Jahreswechsel schreiben, weil der Schwager mit seinem kurzen Besuch nichts als Lieblosigkeit und Kälte verbreitet hatte.
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