Sinzendorf hatte noch immer sein schmales Lächeln um den Mund; Wien sei ohnehin übervölkert, so meinte er. Unter der Fuchtel des Bettelrichters stünden an die tausend Bettler und Landstörzer. Eine kleine Pestilenz würde es dem Magistrat ersparen, sie in Band und Eisen aus der Stadt zu bringen.
Die beiden Sänften, mit denen die Träger jetzt im Zotteltrab liefen, nahmen die ganze Strassenbreite ein, so dass der dürre Harfenist und der dicke Geiger sich an die Mauer drücken mussten. Der Dürre zog artig das Spitzhütl, der Dicke rührte kaum daran, und als die Sänften vorbei waren, spuckte er ihnen nach. Dann schimpfte er mit breitem Maul: „Vergoldeter Madensack! Du Erdschrollen mit Silbertressen! Zierlicher Höllfrass, du! Leimlümmel und Krätzenfink. Dich seh ich noch geschunden und gehenkt, wenn’s einmal aufgeht in der Wienstadt!“
Martl Bleimschein, der Geiger, sprach diesen Unflat, weil er in der einen Sänfte den Grafen Sinzendorf erkannt hatte, der den Wienern verhasst war als der schamloseste aller Diebe und Tellerlecker, die jemals einen kaiserlich-deutschen Hof ausgeplündert hatten.
Während die beiden Sänften ihre Insassen auf dem kürzesten Weg in die Burg trugen, patschten die beiden Musikanten durch den Schmutz der Löwelkordina zu, um von dort über die Basteimauer in den Burghof zu schleichen. Die Träger der Sänften liefen immer rascher, denn alle Turmuhren der Stadt schlugen die Stunde, in der dort drüben in dem mächtigen grauen Bau ein Halbgott zu erwachen pflegte: der deutsche Kaiser aus dem Habsburger Geschlecht.
Die kaiserliche Hofburg mit ihren dicken Mauern, den dunklen Treppen und dämmerigen Sälen wirkte an diesem Tage noch düsterer. In der zweiten Antikamera drängten sich bereits die Minister und Kavaliere, um dem Kaiser ihre Aufwartung zu machen. Das kaiserliche Lever war für acht Uhr angesagt worden, aber schon zweimal hatte der Oberstkämmerer, der in der ersten Antikamera Dienst tat, in den vorgeschriebenen Abständen an die Tür der kaiserlichen Schlafstube geklopft, es war ihm aber noch kein Zeichen des kaiserlichen Erwachens zuteil geworden. Fröstelnd standen die Mitglieder des kaiserlichen Hofstaates herum im flüsternden Klatsch der Hofgesellschaft.
Der Obersthofmeister Graf Sinzendorf unterhielt die Herren mit den Befürchtungen des Rektors: „Seine Magnifizenz der Herr Rektor meint, dass uns die unheilvolle Stellung des Saturns und des Mars zueinander eine ganze Reihe von hitzigen Fiebern bringen werde!“
Die etwas hohe Stimme des Marquis de Valais riss den Rektor schrill aus seinen schweren Gedanken: „Sie sagen, der Konstellassion von die Gestirn kann bringen Fieber? Sie müssen mir mehr sagen davon.“
Die Grafen Harrach und Lamberg blieben stehen und hörten zu. Graf Lamberg war ein lebenslustiger Kavalier, dem der Spott über die Bemühung des geleckten Parisers, Deutsch zu sprechen, nur so um den Mund zuckte. Er kannte den geheimen Grund dieses Zungenkrampfes.
„Die Gestirne haben zweifellos Einfluss auf die Erdatmosphäre“, gab der Rektor dem Marquis ausweichend zur Antwort, neigte sein Haupt um kaum einen halben Zoll und schritt weiter, den Stock mit ausgestrecktem Arm weit vor sich hinsetzend, wie es die steifen Schösse seines breiten Rockes aus starrem Brokat erforderten.
„Viel Fremdländisches am Wiener Hof“, sagte der Graf Weissenwolf, der gestern aus Villach angekommen war, zum jungen Grafen Lamberg. Er wies dabei auf die zwei Gruppen der Hofmusizi, die mit ihren Instrumenten wartend standen.
„Hie italienisch – hie französisch!“ erklärte Graf Dietrichstein. „Zum Leide unseres lieben Inspectoris musicae kämpfen zwei Musikstile um des Kaisers Genie. Rechts sehen Sie alle, die noch auf Monteverdis Opern schwören, links alle, die den Balletten Lullys verfallen sind, weil sie eine gute Küche schätzen.“
„Gute Küche? Was hat die mit den Tonschöpfungen Lullys zu tun? Die sind zwar eine Mixtur von italienischer Messe und Pariser Tanzwut, aber ...?“ lächelte Graf Lamberg.
„Lully begann als Küchenmeister in Versailles. Man sagt, dass er jedem Kapo eines höfischen Orchesters, der seine Kompositionen fördert, auch seine Kochrezepte von einst dediziert“, spottete Graf Dietrichstein. „Doch im Ernst, Weissenwolf. Ich ertrage Lullys Musik nicht mehr. Sie schmeckt wie eine stark gewürzte Pastete. Pariser Kost. Leider haben wir keine deutsche Musik, und Seine Majestät behauptet sogar, dass wir nie eine haben werden.“
Graf Lamberg meinte daraufhin, dass der Herr Hofprediger erst gestern von einem hamburgischen Musikus namens Schütz gesprochen habe, der eine Oper komponiert habe, es sei schon vierzig Jahre oder noch länger her. Graf Lamberg hatte dies kaum geäussert, da kreischte auch schon der Halskrausentenor des Marquis de Valais in das halblaut geführte Gespräch: „Oh! Sie spreschen von Pater Abraham a Santa Clara? Das sein ein serr wortgewaltige Mann in deutscher Sprasch. Aber er misch immer swingen zu spreschen Deutsch. Er bereiten mir serr grossen Qual damit!“
Im ersten Vorzimmer standen die Kammerherren vom Dienst mit den Kammerdienern, die die Kleider des Kaisers zur Auswahl bereithielten. Der Oberstkämmerer stand mit der Uhr in der Hand an der Tür der kaiserlichen Kammer, neben ihm hielt sich der Inspector musicae, Graf Trautensberg, bereit, ins kaiserliche Schlafgemach zu treten. Er flüsterte dem Oberstkämmerer rasch noch zu: „Werden Sie das musikalische Thema, das ich Ihnen gab, auch unbemerkt auf den Nachtisch Seiner Majestät schmuggeln können, Exzellenz?“
Der Oberstkämmerer hob beschwichtigend die Hand. „Seien Sie ohne Sorge, mon cher! Es ist mir bis heute noch immer gelungen.“
Der Oberstkämmerer klopfte zum dritten Male an diesem Morgen, da ging endlich die Tür auf. Der Oberstkämmerer betrat mit der ersten Reverenz, die ihn in die Knie sinken liess, die Schlafkammer des Kaisers. Die zwei weiteren vorgeschriebenen Reverenzen brachten den Kavalier, der fast am Boden dahinkroch, bis an das Bett seines kaiserlichen Herrn. Im Halbdunkel, das im Raume herrschte, sah der Oberstkämmerer, dass die grossen Augen des Kaisers melancholisch geradeaus blickten, sie sahen irgendwohin ins Nichts. Rasch und unbemerkt legte der Oberstkämmerer das kleine Notenblatt auf den Nachttisch und überreichte Seiner Majestät das neue Hemd, das der Kaiser nach den Vorschriften des spanischen Zeremoniells im Bett anzog. Dann kroch der Hofkavalier wieder mit drei Reverenzen zur Tür zurück, um dem Kaiser Zeit zur Morgenandacht zu lassen, die Seine Majestät an einem in der Kammer stehenden Altar verrichtete.
Die im ersten Vorzimmer Wartenden hatten sich inzwischen zu ihrem Dienst bereitgemacht. Rektor Sorbait war zum kaiserlichen Leibmedikus Nikolaus Wilhelm Beckers von Wallhorn getreten, der ihm mit kühlen Blicken entgegensah.
„Wie ist das allerhöchste Befinden Seiner Kaiserlichen Majestät?“ so fragte der Rektor, unbekümmert um die Eiseskälte des Leibmedikus. Und fügte boshaft hinzu: „Ihre Kaiserliche Hoheit, die Kaiserinmutter Eleonora, bat mich gestern abend, dem heutigen Lever Seiner Majestät beizuwohnen. um den Kaiser unauffällig auf sein Aussehen hin zu observieren.“
Die Gestalt des Leibmedikus reckte sich in einer Art von Starrkrampf, als er erwiderte: „Seine Majestät klagten gestern über eine leichte Ermüdung. Kein Wunder bei der Anwendung von Mixturen, die für den zärteren Leib Seiner Majestät kaum heilsam sein können.“
Jetzt wurde die feiste Hinterseite des Oberstkämmerers, der in tiefer Verneigung rücklings ging, im Rahmen der Kammerrür sichtbar. Er war mit seinen drei Reverenzen wieder in die erste Antikamera zurückgelangt, die Tür wurde hinter ihm wie von Geisterhänden geschlossen. Die draussen Wartenden verharrten in ehrfürchtigem Schweigen. Nach kurzer Zeit ging die Tür der kaiserlichen Schlafkammer wieder auf, alle Anwesenden versanken in die grosse Reverenz. Man sah keine Köpfe und keine Gesichter mehr, sondern nur eine Front von goldbetressten Rückenteilen. Die Kaiserliche Majestät war eingetreten.
Читать дальше